![]()
»Medialer Sonder- und Schutzstatus«: Angela Merkel (hier in Kiew, 1.11.2018)
Foto: Kay Nietfeld/dpa
|
Neffs Pointe ist: Merkel erhalte einen »einen medialen Sonder- und Schutzstatus«, der sie erst recht bis 2021 im Amt halten« könnte. Denn wer in der Union an ihrem Stuhl rütteln wolle, »muss sich überlegen, ob er sich mit einer Kanzlerin, die schon zu Amtszeiten fast heiliggesprochen wurde, anlegen will«.
Wo es wie in der Schweiz überdurchschnittlich oft um Bares und Kontostand geht, ist das Gesichtsfeld etwas eingeschränkt, aber die Sehschärfe nimmt zu bei der Unterscheidung von Reden und Vermögen. Also überschrieb der Berliner NZZ-Korrespondent Benedict Neff am Mittwoch einen Bericht über Hüpfereien im deutschen medialen Flohzirkus nach Angela Merkels Auftritt vor der Presse am Montag: »Eine ›Lame duck‹? (...) Sie ist eine Heilige der deutschen Politik.« Der »Rücktritt auf Raten« habe der Bundeskanzlerin »Schutzstatus« beschert. Neff, der sich laut Kurzbiographie auf der NZZ-Website während seines Studiums »mit der katholischen Beichte als Form der Selbstthematisierung« befasste, verwendet höchste Maßstäbe: »Es klang fast ein bisschen wie beim Zweiten Vatikanischen Konzil, als Papst Johannes XXIII. die Fenster der Kirche öffnen wollte, um ›frische Luft‹ hereinzulassen. Wer Merkel im Konrad-Adenauer-Haus in Berlin sprechen hörte, konnte meinen, ihre Nachfolgeregelung sei das schönste Geschäft, das sie je zu erledigen hatte.«
Die deutsche Bürgerpresse zelebrierte kurz vor Allerheiligen entsprechend personalisierte Anbetung, wie der Schweizer konstatierte: »In den Medien brach eine Begeisterung aus über so viel Umsicht und Einsicht und Verantwortungsbewusstsein und Würde. Sie reagierten mit Bildstrecken und Artikeln, die an Nachrufe mahnten, so, als würde Merkel tatsächlich schon im nächsten Moment zurücktreten. (…) In den sozialen Netzwerken waren viele Menschen gerührt. ›Welch wunderbare Pressekonferenz‹, schwärmte der deutsch-russische Pianist Igor Levit auf Twitter. ›Ohne Weinerlichkeit, souverän, klar, warm. (...) Eine große Frau.‹ Auch die Süddeutsche Zeitung war begeistert: ›Das war eine feinsinnige, wohlüberlegte und offenbar lange gereifte Ankündigung.‹ So viel Anfang sei schon lange nicht mehr gewesen. Über dem Kommentar stand der Titel: ›Der richtige Zeitpunkt zum Abschied‹.« Die Zeit habe geschrieben: »Ein unnachahmlicher Abgang.« Selbst die FAZ sei »gegenüber Merkel mild gestimmt wie lange nicht«.
Die Jubelchöre reizten Neff offenbar, an der eigenen These vom Heiligenstatus zu kratzen: »Merkel hat ein Kunststück vollbracht: Obwohl sie noch nicht zurücktritt, schreiben viele Medien so, als würde sie gleich zurücktreten. Obwohl Merkel seit mehr als achtzehn Jahren Vorsitzende der CDU und seit dreizehn Jahren Bundeskanzlerin ist, schreiben viele Medien, sie würde nicht an den Ämtern kleben. Obwohl sie unter dem Druck miserabler Wahlergebnisse und Umfragewerte ihrer Partei und gegen ihre bisherigen Überzeugungen handelt, schreiben viele Medien von einem souveränen Rücktritt.«
Über tote und erst recht über lebendige Heilige nur Gutes zu sagen, ist, müsste Neff wissen, bei deren Anbetern, egal welche Substanz oder Macke ihre Hochstimmung auslöst, oberste Regel. Seine Pointe ist: Merkel erhalte »einen medialen Sonder- und Schutzstatus«, der »sie erst recht bis 2021 im Amt halten« könnte. Denn wer in der Union an ihrem Stuhl rütteln wolle, »muss sich überlegen, ob er sich mit einer Kanzlerin, die schon zu Amtszeiten fast heiliggesprochen wurde, anlegen will«. Das ist Weisheit, die aus 2.000 Jahren Intrigen, Mord und Totschlag, Raffen von Besitz und Macht, also Kirchengeschichte, geschöpft ist. Kommt nur drauf an, wer vom gemeinsamen Richterstuhl von Geldsack und Altar aus zuerst als »Ketzer« ausgerufen wird.

Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen