Sonntag, 4. November 2018

Die Ohrfeige

Vor fünfzig Jahren bekam Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, was ihm zustand

Von Otto Köhler
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Da landete die Hand – zu Recht. Beate Klarsfeld im November 1968 in Köln vor einem Porträt Kurt Georg Kiesingers
Kiesinger-Entlastung: Ein hinterhältiger Widerstand gegen die gebotene Renazifizierung
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Sie kam von hinten, vorbei an den ahnungslosen Sicherheitsleuten, rief »Nazi, Nazi!« und schlug dem bedeutenden Staatsmann ins Gesicht. Kurt Georg Kiesinger empfing am 7. November 1968 auf dem CDU-Parteitag in der Westberliner Kongresshalle die Ohrfeige, die auf immer mit dem Namen des dritten westdeutschen Bundeskanzlers verbunden ist. Des ersten, der anders als sein Vorgänger Ludwig Erhard auch offiziell Mitglied der NSDAP war.
Verpasst hatte sie ihm Beate Klarsfeld. Die kam als junges Au-pair-Mädchen nach Paris, heiratete dort den französischen Juden Serge Klarsfeld, dessen Vater in Auschwitz ermordet worden war. Als Kiesinger 1966 Kanzler wurde, schrieb sie in der französischen Zeitung Combat: »Als Deutsche bedaure ich den Aufstieg Herrn Kiesingers ins Kanzleramt. Wenn die deutschen Staatsgeschäfte von einem Mann geführt werden, der – selbst wenn nur aus Opportunismus – NSDAP-Mitglied war, so heißt das, dass die deutsche Öffentlichkeit einer gewissen Zeit und einer gewissen Einstellung die Absolution erteilt. Die Philosophin Hannah Arendt hat im Zusammenhang mit Eichmann von der ›Banalität des Bösen‹ gesprochen. Für mich verkörpert Herr Kiesinger die Respektabilität des Bösen.«
Im Mai 1968 versprach Beate Klarsfeld im Audimax der Technischen Universität Berlin: »Ich werde Kiesinger öffentlich ohrfeigen.« Günter Grass aber, der neben ihr auf dem Podium saß, missbilligte allein schon diese Ankündigung sehr. Als Heinrich Böll fünf Monate nach Verabreichung der Ohrfeige Beate Klarsfeld fünfzig rote Rosen schickte, tadelte Grass den Kollegen noch heftiger. Bölls Anwort: »Ich frage mich mit der mir zustehenden Bescheidenheit, ob es Günter Grass zusteht, festzustellen, ob und wann ich Anlass habe, einer Dame Blumen zu schicken. Ich hatte Anlass und bin bereit, den Anlass allen Schulmeistern unter meinen Kollegen öffentlich kundzutun. Ich war diese Blumen Beate Klarsfeld schuldig.« Und schickte nochmals fünfzig rote Rosen.

Kiesinger im Widerstand

Der im November erfolgreich Geohrfeigte hatte frühzeitig verraten, was ihn im Innersten antrieb. Kiesinger, der auch selbst dichtete, rezitierte im Kreis seiner Kommilitonen von der auch heute noch real existierenden katholischen Verbindung Alamannia den Ruf nach dem Führer, den der freiheitslüsterne schwäbische Dramatiker und Dichter (»Aus frischer Luft«) Johann Georg Fischer verfasst hatte: »Komm Einzger, wenn du schon geboren, / Tritt auf, wir folgen deiner Spur. / Du letzter aller Diktatoren, / Komm mit der letzten Diktatur.« So prädestiniert meldete sich Kiesinger Ende Februar 1933 – noch vor dem Reichstagsbrand, versicherte er – »nicht aus Überzeugung, aber auch nicht aus Opportunismus«, wie er später als Zeuge vor Gericht angab, bei der NSDAP an und erhielt die Mitgliedsnummer 2.633.930. Im Jahr 1940 trat er seinen Dienst im Auswärtigen Amt des sechs Jahre später in Nürnberg gehenkten Joachim von Ribbentrop an, wo er schnell für die Propaganda des Auslandsrundfunks tätig war und sich »Widerstandshandlungen im Auswärtigen Amt« (siehe unten) hingab. Wie? Kiesinger musste zwischen den heftig auch über die Auslandspropaganda zerstrittenen Naziministern Ribbentrop und Joseph Goebbels vermitteln. Und so passierte es: Wenn Kiesinger sich von den Argumenten des Propagandaministers überzeugen ließ, stand er im Widerstand gegen Ribbentrop. Wenn er aber mehr – das geschah öfter – den Anweisungen seines Ministers vertraute, widerstand er Goebbels. Das ganze Dritte Reich war eine einzige Widerstandsbewegung.
So kam es 1966, dass der Spiegel bei der Bildung der Großen Koalition des NSDAP-Mitglieds Kiesinger mit dem Emigranten Willy Brandt ersteren von dem strengen Ruch befreite, ein Nazi gewesen zu sein. Spiegel-Vizechef Conrad Ahlers war mit Kiesinger vertraut, seit der in der Spiegel-Affäre versichert hatte, der Major der Reserve (Fallschirmjäger) in Augsteins Diensten sei bestimmt »kein Landesverräter«. Dieser zu Dank verpflichtete Ahlers hatte ein Dokument ausgegraben, das beweisen sollte, wie widerständig Kiesinger war. Und so schrieb das deutsche Nachrichtenmagazin im November 1966: »Am 3. November 1944 schwärzten der ›Wissenschaftliche Hilfsarbeiter‹ im Auswärtigen Amt Ernst Otto Dörries und sein Kollege Dr. Ahrens ihren Vorgesetzten Kiesinger beim SS-Reichssicherheitshauptamt an: Er gehöre zu jenen, die ›nachweislich die antijüdische Aktion systematisch hemmten‹, möglicherweise ›der Außenpolitik des Führers entgegengesetzt sein könnten‹, und er bezweifle das ›Durchhaltevermögen des deutschen Volkes‹.«
Kiesinger hatte lediglich davor gewarnt, dass in Sendungen für die USA der US-Präsident als »der Jude Roosevelt« bezeichnet wurde. Da der nun einmal keiner sei, sabotiere das die Glaubwürdigkeit der für die USA bestimmten Radiosendungen. Auch damit leistete der für die Auslandspropaganda zuständige Abteilungsleiter Kiesinger seinen Mitnazis einen großen Dienst. Dass er je verfolgt wurde, hat nicht einmal Kiesinger selbst behauptet.

Kampf der Klarsfelds

Beate Klarsfeld wurde wenige Stunden nach der Ohrfeige in einem Schnellverfahren zu einem Jahr Gefängnis ohne Bewährung verurteilt. Sie musste aber als inzwischen französische Staatsbürgerin auf freien Fuß gesetzt werden. Der Kampf der Klarsfelds gegen Naziverbrecher ging weiter. Sie versuchten den in Frankreich zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilten Gestapo-Chef von Paris, Kurt Lischka, aus Köln zu entführen und erzwangen so, dass er dort endlich vor Gericht gestellt wurde. Ihr größter Erfolg: Den früheren Gestapo-Chef von Lyon, Klaus Barbie, spürten sie in Bolivien auf. Er wurde an Frankreich ausgeliefert, dort vor Gericht gestellt und 1987 zu lebenslanger Haft verurteilt.
Beate Klarsfeld kandidierte 2012 als Kandidatin von Die Linke für das Amt des deutschen Bundespräsidenten. Das Ergebnis entsprach der Wahrheit über dieses Land. Sie erhielt 126 Stimmen. Mit 991 siegte Joachim Gauck.
Es war nicht seine Idee, aber 2015 musste er ihr und ihrem jüdischen Mann Serge je ein Bundesverdienstkreuz für die von ihnen geleistete Aufarbeitung der Naziverbrechen sowie für ihren Einsatz gegen Antisemitismus und politische Unterdrückung überreichen lassen.
Das Bundesverdienstkreuz für Beate Klarsfeld. Das war schon eine kuriose Fußnote zum juristischen Aufsatz, mit dem unser immer noch herrschender Grundgesetzkommentator Theodor Maunz (NSDAP/CSU) ein Jahr nach Kiesingers Parteieintritt 1934 den »inhaltlichen Wandel des Begriffes eines ›unbescholtenen Lebenswandels‹ einer deutschen Frau, die einen Juden geheiratet hat« begrüßt hatte.

https://www.jungewelt.de/artikel/342890.postfaschismus-in-der-brd-die-ohrfeige.html

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