Dienstag, 27. November 2018

Mangel an bezahlbarem Wohnraum verschärft Obdachlosigkeit in BRD. Erste Kältetote vor Wintereinbruch, Großstädte erweitern Notprogramme

Opfer der Wohnungspolitik


Von Kristian Stemmler
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Mehrere Zelte unter der Hamburger Kennedybrücke (29.3.2018)
Sie starb in einer eiskalten Nacht direkt vor dem Hamburger Michel. Als ein Freund, der mit ihr »Platte machte«, die 64 Jahre alte Obdachlose Birgit, genannt Biggi, am Morgen des 17. November hatte wecken wollen, fand er nur noch ihren leblosen Körper vor. »Ihr Tod muss ein Weckruf sein. Es darf nicht sein, dass auf der Straße lebende Menschen verelenden und keine Hilfe erhalten«, sagte Stephan Karrenbauer, Sozialarbeiter bei Hinz & Kunzt am Montag im Gespräch mit junge Welt.
Alarmiert ist Karrenbauer vor allem, weil die Frau bereits das dritte Kälteopfer in Hamburg und das fünfte bundesweit in nur knapp drei Wochen ist. »Dabei hatten wir bisher ja nur Temperaturen von knapp unter null Grad«. Das zeige, dass nicht nur die Zahl der Obdachlosen immer mehr zunehme, sondern auch deren Verelendung, so der Sozialarbeiter. Er warnt seit Jahren, dass der körperliche Zustand obdachloser Menschen immer schlechter wird (siehe jW vom 5. November).
Die Studie einer Hamburger Ärztin, von der Hinz und Kunzt am 16. November berichtet hatte, bestätigt die Annahmen. Für ihre Doktorarbeit hatte sie Daten von 263 Obdach- und Wohnungslosen ausgewertet, deren Leichen zwischen 2007 und 2015 im Institut für Rechtsmedizin untersucht wurden. Das Ergebnis: Ein Wohnungsloser wird in Hamburg im Schnitt nur 49 Jahre alt, etwa 30 Jahre weniger als der »Normalbürger«. Gut drei Viertel der Gestorbenen befanden sich »in einem mäßigen bis schlechten körperlichen Zustand«.
Dass die Unterbringung Obdachloser kein Gnadenakt ist, sondern eine gesetzliche Pflicht der Kommunen, betonte Werena Rosenke, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW), am Montag gegenüber jW. Jeder »unfreiwillig wohnungslose Mensch« habe Anrecht auf eine ordnungsrechtliche Unterbringung durch die Kommune, in der er sich aufhalte. Das gelte auch für Obdachlose aus osteuropäischen Ländern wie Polen oder Rumänien. Nach den letzten Schätzungen der BAGW stieg die Zahl der Obdachlosen in der BRD allein von 2014 bis 2016 von 39.000 auf 52.000, die Zahl der Wohnungslosen in derselben Zeit um 150 Prozent auf rund 860.000. Grund für diesen Anstieg ist vor allem die desaströse Lage auf dem Wohnungsmarkt.
Das Leben auf der Straße sei »schon immer schlimm« gewesen, so Rosenke, die Zahl der Kältetoten schwanke: »Wir hatten Winter, da waren es fünf, und welche, da waren es 15.« Die Kommunen müssten einen am Bedarf ausgerichteten Bestand »menschenwürdiger, möglichst dezentraler Unterbringungsmöglichkeiten« bereitstellen. Dazu gehörten auch Übernachtungsplätze für Obdachlose mit Hund. Viele schliefen nur deshalb auf der Straße, weil sie ihren Hund nicht mitnehmen dürften.
In Berlin haben sich die Behörden nach einem Streit im Senat über die Öffnung von U-Bahnhöfen für Obdachlose auf ein Konzept geeinigt. Die U-Bahnhöfe Moritzplatz (Linie U 8) und Lichtenberg (U 5) sollen als »Kältebahnhöfe« nachts geöffnet bleiben, wie Regina Kneiding, Sprecherin der Berliner Sozialbehörde am Montag gegenüber jW bestätigte. »Wir haben mit 1.200 Übernachtungsplätzen in der Kältehilfe so viele wie nie. Aber es gibt immer Obdachlose, die diese Angebote nicht annehmen«, so Kneiding.
Zum Streit zwischen Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Bündnis 90/Die Grünen), zugleich Aufsichtsratschefin bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG), und Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Die Linke) war es gekommen, nachdem die BVG angekündigt hatte, die Bahnsteige von drei U-Bahnhöfen nicht mehr wie in den Vorjahren zum Übernachten freizugeben. Das Unternehmen hatte darauf verwiesen, dass es zuletzt vermehrt zu Stürzen ins Gleisbett gekommen sei und Obdachlose dort auch ihre Notdurft verrichtet hatten.
Die hygienischen Probleme sollen durch mobile Toiletten gelöst werden, die bereits an den beiden Kältebahnhöfen aufgestellt wurden. Außerdem werden Teams von Streetworkern und Sicherheitsmitarbeitern der BVG in den Bahnhöfen unterwegs sein, um Obdachlosen Hilfe anzubieten.

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