Sonntag, 4. November 2018

In permanenter Angst


Bei Abschiebungen gehen Behörden immer brutaler vor. Initiativen rufen zu Solidarität mit Betroffenen auf

Von Ulla Jelpke
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Die Verrohung der deutschen Abschiebepolitik ist auf allen Ebenen zu registrieren (Symbolbild)
Schlaglichter: »Ein durch die Berliner Ausländerbehörde beauftragter Arzt verabreichte einem 27jährigen geistig behinderten Mann aus Berlin gegen dessen Willen und in Abwesenheit des gesetzlichen Betreuers (…) ein sedierendes Medikament, woraufhin er völlig weggetreten schien. (…) Eine Frau wurde von Beamtinnen der Bundespolizei vor Abflug gewaltsam bis auf die Unterhose entkleidet und durchsucht. Durch Schläge auf die Schulter erlitt sie ein großes Hämatom. (…) Ein Mann, der noch im Flughafengebäude möglicherweise in suizidaler Absicht versuchte, sich selbst zu verletzen, wurde, mit einem Gurt gefesselt, ins Flugzeug gebracht.« Diese erschütternden Berichte stammen von Asylsuchenden, die am 6. Juni 2018 im Zuge einer Sammelabschiebung von Berlin nach Madrid überstellt wurden. Gemäß der Dublin-III-Verordnung ist Spanien für die Bearbeitung ihrer Asylanträge zuständig. Der Berliner Flüchtlingsrat steht mit einigen Betroffenen in Kontakt und hat ihre Erfahrungen dokumentiert.
In letzter Zeit häufen sich Berichte von Flüchtlingsräten und Abschiebungsbeobachtern über die zwangsweise Verabreichung sedierender Medikamente, Fesselungen, Familientrennungen und das Schlagen von Asylsuchenden. Insbesondere bei Abschiebungen in andere EU-Staaten komme es zu drastischer Polizeigewalt. Seit einiger Zeit setzen die Abschiebebehörden vermehrt auf Charterflüge: Auf Anfrage der Linksfraktion im Bundestag teilte die Bundesregierung mit, dass im bisherigen Jahr 2018 bereits dreimal so viele Asylsuchende per Charterflug in andere europäische Staaten überstellt worden sind wie im gesamten Jahr 2017. Im Unterschied zu Linienflügen gibt es dabei keine Zeugen für Polizeigewalt.
Während Bund und Länder noch vor einigen Jahren zumindest verbal bemüht waren, den Eindruck zu erwecken, dass der Schwerpunkt der Rückführungspolitik auf sogenannten freiwilligen Ausreisen liege und zwangsweise Abschiebungen nur als äußerstes Mittel zum Einsatz kämen, lassen Innenminister von Union und SPD heute keine Gelegenheit aus, sich mit der Durchsetzung von Abschiebungen zu brüsten. In der Praxis schlägt sich das in einer Verrohung der Abschiebepolitik nieder. Diese beschränkt sich nicht auf die Ausübung direkter Gewalt. Vielfach wird die Ausreisepflicht ohne Rücksicht auf die besondere Schutzbedürftigkeit von Betroffenen durchgesetzt, zum Teil offen rechtswidrig. So geschehen in Sachsen, von wo ein syrisches Ehepaar mit drei Kindern Anfang September rechtswidrig nach Rumänien überstellt wurde, obwohl das Asylverfahren noch lief. Im Mai konnte eine hochschwangere Frau aus Sierra Leone nur durch eigenen entschlossenen Widerstand ihre Überstellung nach Italien verhindern – zwei Tage vor Beginn ihres Mutterschutzes. Im Oktober verhinderte in Saalfeld nur der energische Protest von Hebammen die Abschiebung eines Mannes aus dem Kreißsaal, während seine Frau in den Wehen lag.
Dass Abschiebungen seit 2015 überwiegend unangekündigt stattfinden, versetzt Geflüchtete ohne gültiges Aufenthaltsrecht in einen dauerhaften Angstzustand. In vielen Sammelunterkünften rückt die Polizei Nacht um Nacht an, um Menschen zur Abschiebung abzuholen. Mancherorts richten Geflüchtete Nachtwachen ein, die warnen, wenn die Polizei kommt, andere tauchen unter oder halten sich nachts nicht in den Unterkünften auf.
Und wer sich gegen Abschiebungen solidarisiert, wird kriminalisiert. In Donauwörth, Ellwangen, Donaueschingen und vielen anderen Lagern kam es zu martialischen Großeinsätzen der Polizei, nachdem zuvor Abschiebungen aufgrund von Protesten anderer Bewohnerinnen und Bewohner abgebrochen werden mussten. Schwerbewaffnete Polizeibeamte mit Hunden stürmten die Unterkünfte, drangen gewaltsam in Zimmer ein, griffen Personen mit Pfefferspray und Schlagstöcken an und nahmen Dutzende Geflüchtete fest. Viele von ihnen erhielten in der Zwischenzeit Strafbefehle oder wurden vor Gericht verurteilt, weil sie angeblich Widerstand geleistet oder Polizeibeamte tätlich angegriffen haben.
Das zeigt: Der Staat geht hart gegen jene vor, die sich der brutalen Abschiebepraxis in den Weg stellen. Aktivisten und Flüchtlingsräte rufen dazu auf, sich mit den Betroffenen zu solidarisieren, und fordern eine lückenlose Aufklärung der gesetzeswidrigen Polizeieinsätze.
Die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter kritisiert in einem am Dienstag veröffentlichten Bericht unrechtmäßige Einzelhaft und die Fixierung von Gefangenen in der nordrhein-westfälischen Abschiebeunterbringung in Büren. Der Bericht geht auf einen nicht angekündigten Besuch in der Haftanstalt zurück. Auch gebe es keine psychologische Betreuung, obwohl aufgrund der prekären Situation eine erhöhte Gefahr von Selbstverletzungen und Suiziden bestehe.

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