Samstag, 21. Juli 2018

Geboren unter der Luftbrücke (Klaus-Detlef Haas)


Dies ist, da es um die Umstände meiner Geburt im Januar 1949 geht, Bericht aus mindestens zweiter Hand. Logisch, ja, bio-logisch. Unstrittig ist der familiäre Report über den unmittelbaren Beginn meine Vita; heftig umstritten, gar heute noch profund umkämpft sind die historischen Analysen der sie seinerzeit begleitenden politischen und ökonomischen Bedingungen. Ich bin in der Zeit der Berlin-Blockade geboren. Deren Beginn jährt sich in diesen Tagen zum 70. Mal, und die Rosinenbomber dröhnten über dem Kreißsaal des Neuköllner Krankenhauses beim Landeanflug zum nur wenige Kilometer, Luftlinie natürlich, entfernten Flughafen Tempelhof. Bericht über so verursachte pränatale, natale oder postnatale Belästigung meiner Mutter habe ich nicht. Allerdings bin ich äußerst lärmempfindlich, vor allem was den intellektuell zu bewertenden Inhalt solcher Störung betrifft. Aber das ist eindeutig ein Defekt der Nachwendezeit, der besonders immer wieder dann aufpoppt, wenn sich wie derzeit der akustisch wahrnehmbare Zeit(un)geist mit dem Übertragungsrhythmus von Spielen der Mannschaft lärmbelästigend deckt.

Von Belästigungen, die sich aus der Berlin-Blockade hätten ergeben können, war meine Mutter nicht betroffen. Auch nicht mein Vater. Der nämlich fuhr meine hochschwangere Mutter mit dem Opel Wanderer meines Großvaters binnen weniger Minuten die dreieinhalb Kilometer von unserem Zuhause in Berlin-Baumschulenweg, sowjetischer Sektor, ins Krankenhaus, amerikanischer Sektor. Zwei Wochen zuvor hatte mein Vater diese Tour schon einmal unternommen; probehalber. Keinerlei Beanstandung, keinerlei Kontrolle; nicht durch den Russen, nicht durch den Ami. Genauso unbeobachtet und unbehindert verlief die Rückfahrt. Nahezu unbeschwert, zumindest in dieser Hinsicht, stiegen meine künftigen Eltern am 21. Januar 1949 in den Opel Wanderer. Was war denn da los im Blockade-Berlin?


»Airlift« und andere Propagandaschlachten
In der Nacht vom 31. März zum 1. April 1948 kam es zu einem dramatischen Ereignis im Zusammenhang mit der künftig als erste Berlin-Krise bezeichneten schweren Auseinandersetzung zwischen den Alliierten. Nach über zweieinhalb Jahren normalem Funktionieren des Zugverkehrs zwischen Berlin und der britischen beziehungsweise US-amerikanischen Zone in Westdeutschland stoppten in dieser Nacht sowjetische Offiziere einen britischen Militärzug bei Marienborn; nach über zwanzig Stunden wurde er zu seinem Ausgangsbahnhof Berlin-Charlottenburg zurückgeschickt. Der australische Journalist Wilfred G. Burchett, selbst Insasse des Zuges, nannte das den »Beginn der Ereignisse, die zur Blockade von Berlin und zur Gegenblockade der sowjetischen Besatzungszone führten« (Wilfred G. Burchett: »Der kalte Krieg in Deutschland«, übers. v. Elisabeth Rompe-Baumgarten, Berlin (Ost) 1950, S. 36 ff.).

Die Berlin-Blockade – das Werk des Russen? Wie eh und je, bis heute?

Dem Vorfall ging allerdings Bedeutendes voraus. Die Rede des ehemaligen britischen Premiers Winston Churchill am 6. März 1946 am Westminster College in Fulton, Missouri, USA gilt gemeinhin als Eröffnung des Kalten Krieges; Churchill lieferte dazu das politische und das ideologische Konzept. In der Folge gingen die Westalliierten Schritt für Schritt von den Festlegungen nicht zuletzt der Potsdamer Konferenz 1945 ab, die ein politisch und wirtschaftlich einheitliches Nachkriegsdeutschland unter Verwaltung der vier Großmächte vorsah. Über einen längeren Zeitraum haben vor allem die USA und Großbritannien im Zusammenwirken mit deutschen Großindustriellen und Finanzmagnaten wie mit deutschen Politikern, so Konrad Adenauer (CDU) oder Kurt Schumacher (SPD), Voraussetzungen dafür geschaffen, einen westdeutschen Separatstaat zu schaffen. Knapp zehn Monate nach Churchills Rede wurde am 1. Januar 1947 die sogenannte Bizone als zunächst wirtschaftliche beziehungsweise wirtschaftspolitische Vereinigung der US-amerikanischen und der britischen Zone in Deutschland geschaffen; im März 1948 einigten sich die drei Westmächte in London auf den Zusammenschluss der Bizone mit der französischen Zone Deutschlands zur sogenannten Trizone, unbestritten und so auch angelegt, dem Vorläufer der Bundesrepublik Deutschland, im September 1949 gegründet. Die Politik der Sowjetunion war, entsprechend alliierten Abkommen, auf die Schaffung eines politisch und wirtschaftlich einheitlichen, antifaschistischen und, was später eine große Rolle spielen sollte, entmilitarisierten Deutschlands gerichtet. Das so entstandene Zerwürfnis zwischen den ehemaligen Verbündeten des Zweiten Weltkriegs musste sich konsequenterweise in gegensätzlichen politischen Prämissen und konträrer Praxis der Arbeit im Alliierten Kontrollrat zeigen, dessen Sitz in Berlin war. In mehreren Sitzungen der Außenminister der Alliierten in London wurde die Problematik erörtert. Es kam zu keiner Einigung. Berlin wurde zum Spielball alliierter Widersprüche. Sie zeigten sich vor allem und beispielhaft im Kampf um die unterschiedlich interpretierten Rechte des Zugangs zu und von Berlin. Behinderungen, auch Schikanen, gab es auf beiden Seiten; neben allem Kalkül spielten auch Emotionen eine Rolle.

Aus zunächst transportpolitischen, dann direkt politischen Querelen wurden massive gegenseitige Behinderungen – alles vor dem Hintergrund der Vorbereitung eines westdeutschen Staates und, damit engstens verbunden, einer Währungsreform. Zweifelsohne bedurfte es der Regelung des Finanzwesens; trotz langsamer wirtschaftlicher Erholung, vor allem im Westen – noch immer galt die Reichsmark. Eine alle vier Besatzungszonen einbeziehende Lösung der Währungsfrage wäre politisch wie ökonomisch sinnvoll gewesen; Deutschland war immer noch ein Wirtschaftsgebiet. Doch die Strategie der Westmächte ließ das nicht zu: Nach der Einführung der D-Mark in der Trizone am 21. Juni 1948 war drei Tage später diese neue Währung auch die für Westberlin. Deutschland war de facto gespalten. Die Sowjetunion reagierte am gleichen Tag mit der Sperrung der Land-, Wasser- und Schienenwege zwischen den Westsektoren Berlins und Westdeutschlands.

Es kam zu Engpässen in der Versorgung der Westberliner Bevölkerung. Doch, wenn auch gelegentlich kontrolliert, hatte sie Zugang ins Brandenburger Umland und nach Ostberlin, ja, sie war sogar durch den Osten dazu aufgefordert. Im Westen dagegen wurde die auch »airlift« genannte Luftbrücke installiert; zweifellos eine planerische und fliegerische Meisterleistung. Doch eine 2,2 Millionen zählende Bevölkerung kann nicht mit allem aus der Luft versorgt werden; zumal der volle Leistungsumfang des Transports erst drei Monate nach seinem Beginn erreicht wurde. So hatte die Luftbrücke außer der Versorgung vor allem eine enorme propagandistische Bedeutung, die bis heute anhält. Zumeist herrscht das Bild eines völlig abgeriegelten Stadtteils vor, einer hungernden und frierenden Bevölkerung.


Modellfall Berlin
Der spätere US-Außenminister John Foster Dulles sagte im Januar 1949 in kleinem Kreis in Paris: »Zu jeder Zeit hätte man die Situation in Berlin klären können […] Die gegenwärtige Lage ist jedoch für die USA aus propagandistischen Gründen sehr vorteilhaft. Dabei gewinnen wir das Ansehen, die Bevölkerung von Berlin vor dem Hungertod bewahrt zu haben, die Russen aber erhalten die ganze Schuld wegen ihrer Sperrmaßnahmen.« (Zitiert nach George S. Wheeler: »Die amerikanische Politik in Deutschland (1945-1950)«, Berlin (Ost) 1958, S. 223) Sehr deutlich wird auch L. L. Matthias: »Einen sehr willkommenen Anlaß, die öffentliche Meinung der Welt gegen die Russen zu mobilisieren, bot die Berliner Blockade […] Es war ganz offenbar, daß Truman, Acheson und General Clay die Blockade absichtlich verlängert hatten, um einen Zwischenfall zu einem welthistorischen Ereignis aufzublasen und die Last der Verantwortung, die auf den Schultern der Russen lag, zu vervielfachen.« (L. L. Matthias: »Die Kehrseite der USA«, Reinbek bei Hamburg 1971, S. 146 ff.) Die Reihe solcher Propagandaleistungen der USA oder Großbritanniens, assistiert von deutschen Medien, lässt sich mühelos ergänzen und bis in die Gegenwart verfolgen – von der propagandistischen Sicht auf den 17. Juni 1953, den 13. August 1961, die Kuba-Krise 1962, Prag 1968 bis heutzutage auf die Ereignisse auf der Krim 2014 und den Fall Skripal.

Westberlin ist nicht abgeriegelt gewesen. Ich kann das beweisen.


Zum Thema ist sehr zu empfehlen: Gerhard Keiderling: »Rosinenbomber über Berlin«, Dietz Verlag, Berlin 1998

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen