Sonntag, 16. Februar 2020

Schnee in Hutong (Frank Schumann)

Beijing ist grün. Rot gewiss. Aber grün? Wir kennen die Bilder aus Chinas Hauptstadt. Meist hängt eine Dunstglocke über der Metropole, nicht wenige der mehr als zwanzig Millionen Bewohner tragen dann einen Mundschutz, von dessen Nützlichkeit selbst die Träger nicht überzeugt sind. Die Stadt wird im Westen und im Norden vom Gebirge umschlossen. Weht von dort der Wind, ist es winters saukalt und der Himmel klar, weht er mal nicht oder schwach aus dem Süden, bilden die Abgase von Fabriken, Heizungsanlagen und Verkehr jenen stehenden Dunst, der allgemein Smog heißt. Der Nordwind, wenn er denn über die Stadt geht, ist in der Regel scharf, weshalb viele offene Flächen mit grünen Netzen bedeckt sind, damit der Luftzug nicht die trockene Krume mit sich reißt. So schützt man den Boden und auch die Luft.

Aber nicht wegen dieser Netze ist die Stadt grün. Sondern wegen der Grünanlagen. Das meint nicht nur die alten Parks und Gärten aus vorsozialistischen Tagen, sondern die grünen Korridore, die sich zunehmend durch die Stadt schieben. Sie rahmen die Schnellstraßen, auf denen es kein Halten gibt, ufern da und dort zu kleinen Parks und Wäldchen aus. Die Verantwortlichen haben erkannt, dass es nicht allein mit der Reduktion des Feinstaubs getan ist – weshalb man etwa alle Kohlekraftwerke schloss, Betriebe dichtmachte, an die zwanzigtausend elektrisch betriebene Oberleitungsbusse auf die Straße brachte und den öffentlichen Nahverkehr zunehmend in den Untergrund verlegte sowie nur noch Autos zulässt, die elektrisch getrieben werden oder den höchsten europäischen Abgasnormen genügen. Der ironisch-doppeldeutige Einwand an dieser Stelle, dies überrasche nicht, schließlich trügen die meisten PKW in China einen deutschen Namen, ist deplatziert: China produziert selbst ein halbes Dutzend eigene Automarken, die nicht weniger groß, wuchtig und teuer sind und den gleichen Abgasvorschriften unterliegen wie die deutschen.

Zur Verbesserung der Luft- und Lebensqualität gehören die grünen Oasen und die grünen Schneisen, mit denen die Stadt durchlüftet wird. Das ist seit Jahren Programm. Doch darüber liest man hier wenig bis nichts: Eine Dunstglocke über der Hauptstadt des Kommunismus, groß wie das Bundesland Thüringen, aber mit mehr als zehn Mal so vielen Bewohnern, beweist schließlich überzeugend, dass das nicht die Zukunft der Menschheit sein kann.

Zugegeben, in den Satellitenstädten mit ihren uniformen Wohntürmen möchte unsereiner nicht unbedingt leben. Die Anwohner selbst monieren die oft fehlende Infrastruktur und die Anonymität; mein chinesischer Freund teilt seine Etage seit einigen Jahren mit zehn Nachbarn, acht von ihnen kennt er nicht. Ja, die Mieten sind niedrig, und das Auto findet unterm Haus bezahlten Platz in einer Tiefgarage, dennoch ist’s dazwischen eng, und die Techniker tüfteln an Lösungen, wie man in naher Zukunft die PKW per Aufzug an den Außenwänden der Hochhäuser parken kann. Will heißen: Den Individualverkehr gedenken die Chinesen vorerst nicht abzuschaffen, auch wenn sie inzwischen als kühne Umweltpioniere gelten. Man spürt den verständlichen Zwiespalt der Zuständigen: einerseits die Millionenmassen ordentlich und rasch behausen und andererseits sich objektiven Zwängen beugen zu müssen. Als da sind: wenig Baugrund, enormer Zeitdruck, ökonomische und ökologische Rahmenbedingungen. Aber immerhin: Grund und Boden sind Staatseigentum und damit von der Spekulation ausgenommen. Wer Häuser errichtet, pachtet das Land für eine bestimmte Zeit. Und dann? Meine Gesprächspartner hoben an dieser Stelle die Schultern: Das wisse man noch nicht, siebzig oder neunzig Jahre sind heutzutage eine lange Zeit. Man werde dann sehen. Vordringlicher sei, die Korruption zu stoppen. Wo nämlich gebaut wird, wird geschmiert. Wo viel gebaut wird, sind viele Hände im Geschäft, die aufgehalten werden. Daher führe die Partei den Kampf gegen die Korruption, und Präsident Xi mache sich damit nicht nur Freunde, sagen die Freunde.

Eine der vielen grünen Oasen windet sich um den Qianhai- und den Houhai-See in der Altstadt, vielleicht fünf Kilometer nördlich von der Verbotenen Stadt und dem Platz des Himmlischen Friedens, dem Nabel Beijings. Es wäre ungehörig, keine Rikscha zu nehmen, sagen meine Begleiter, und dass sie nicht Unrecht haben, begreife ich, nachdem wir uns auf die Sitze gezwängt und der nicht mehr ganz junge Radfahrer eine Decke über unsere Beine gebreitet hat. Es sei seine erste Fahrt heute, sagt er und tritt in die Pedale. Die Uhr zeigt bereits drei Uhr.

Zunächst passieren wir eine Sportschule. Sie hat Olympiasieger und Weltmeister in verschiedenen Disziplinen hervorgebracht, ihre Namen sind am Eingang an die Wand geschrieben. Dann rollen wir unter Trauerweiden am Wasser entlang. Menschen flanieren am Uferweg und an den niedrigen Häusern vorbei, Läden und Restaurants, Ateliers und Wohngebäude reihen sich aneinander. An den Eingängen hängen mitunter Dutzende Stromzähler, jede dahinter befindliche Wohnung hat einen eigenen, woraus sich auf die Größe des Innenhofs, nicht aber auf die der Wohnungen schließen lässt. Sie seien jedoch teuer, sagt der Fahrer, weil sehr begehrt und hip. Hutong heißen diese oft jahrhundertealten Wohnhöfe und engen Gassen. Nur an manchen Stellen parken fette SUVs unter einem Überzug. Hier leben offenkundig die Reichen? Der Fahrer grinst über den Brillenrand: Nee, die richtig Reichen haben eine Tiefgarage.

Wir müssen warten, weil in einer Uraltkneipe offenbar ein Musikvideo gedreht wird. Hinter der Scheibe sitzt im Scheinwerferlicht ein junger Mann mit Gitarre. Um ihn wuseln Masken- und Kostümbildner, draußen auf der Straße herrscht ähnlich wichtigtuerische Betriebsamkeit. Nein, stopp, keinen Schritt weiter! Die Roadies, junge Burschen in ziemlich schräger Kleidung, kosten ihre vermeintliche Bedeutung aus. Selbst die drei buddhistischen Mönche, die uns zuvor mit schnellem Schritt überholt hatten, müssen verharren.

Wir sind in einem quirligen und quietschbunten Szeneviertel angekommen. Jenseits der Yundian-Brücke beginnt die Yandai Byway, Beijings älteste Geschäftsstraße. Vor achthundert Jahren soll hier schon gehandelt worden sein. Die Einrichtungen sind inzwischen jüngeren Datums und wohl auch nicht nur für die Anwohner gedacht. Es gibt Souvenirs, Klamotten, die älteste Post (die aber schon seit Jahren keine Post ausliefert) und ein Schnapsmuseum, Schnellzeichner porträtieren Touristen für zehn Yuan (was etwas mehr als ein Euro ist), dazu brutzelt und brodelt chinesisches Fast-Food in Töpfen, Tiegeln und Woks. Angeboten werden Kunst und Kitsch (letzterer überwiegt), esoterischer Schmuck und traditionelle Medikamente. Alle zehn Meter riecht und klingt es anders, die Musik kommt meist nicht aus der Konserve. Die überwiegend jugendlichen Passanten schieben sich neugierig mit ihren Handys, unablässig Selfies produzierend, durch die Pfeifengasse – Yandai heißt nämlich Tabakpfeife mit langem Stiel und kleinem Pfeifenkopf. Und die Gasse nennt sich so, weil sie den Schwung und die Richtung einer gebogenen Pfeife hat und sich am Ende ein wenig weitet. Das kann man auch auf einem Bronzerelief nebst englischer Erklärung studieren.

Meine kundigen Gefährten lotsen mich in eine Seitengasse, die so schmal ist, dass man den Bauch einziehen muss, kommt einem jemand entgegen. Grau und alt die Fassaden, doch der Blick durch die Fenster zeigt, welch ungebremstes Leben dahinter stattfindet. Wir gehen in eines dieser Lokale, eine schlichte Zahl am Eingang weist auf den Namen: Hofrestaurant Nr. 16. Aber nicht nur weil es winzig ist, haben meine Begleiter einen Tisch reservieren lassen: Es bietet kaiserliche chinesische Küche und hat seinen Preis, trotzdem ist es immer voll. Zum Service (aber den gibt es auch in anderen Häusern) gehört das Ladegerät fürs Handy, das an den Tisch gebracht wird, sofern der Saft auszugehen droht. Die geldscheingroßen und zentimeterdicken Gerätschaften stecken im Halbdutzend in einer Ladestation am Tresen, und wenn man geht, zahlt man dafür einen schmalen Obolus.

Während wir in der elektronischen Speisekarte unterwegs sind – auf dem Tablet tippt man die leckeren Gerichte an, die man zu speisen wünscht –, fallen plötzlich vorm Fenster des winterlich gestylten Lokals, kein Witz, große Schneeflocken. Die Gäste, die durch die Tür hereinkommen, schlagen lachend die weißen Flocken von Jacken und Mänteln.

Als wir später über den weißen Hof trampeln, sehe ich die Schneekanone, die vom Dach den künstlichen Schnee pustet.

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