Samstag, 14. Dezember 2019

Die alte Leier: 69 + 4 (Klaus Müller )

Ökonomen haben keinen guten Ruf. Schon Karl Valentin sinnierte, dass Prognosen nun mal schwierig sind, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Sie liegen stets daneben, weil sie einseitig bestimmte Aspekte über- und andere unterbewerten. Die Hellseher der Ökonomie korrigieren ihre Voraussagen nie etwa beschämt, sondern mit großem Gedöns und ungebrochenem Selbstvertrauen.

Jetzt haben die Ökonomieexperten der Bundesbank herausgefunden, dass die Leute bis zum 69. Lebensjahr arbeiten müssten und noch vier Monate obendrauf, damit das strapazierte deutsche Rentensystem nicht kollabiere. Die Rente erst so spät auszuzahlen, erscheint aus einem bestimmten Blickwinkel plausibel. Die Erwerbstätigen zahlen Versicherungsbeiträge in den Rentenfonds ein. Aus diesem Fonds werden die aktuellen Renten gezahlt. Man nennt das Finanzierungsmodell den Generationenvertrag. Die Jungen sorgen für die Alten. Das System funktioniert so lange, wie das Einzahlungsvolumen den Auszahlungsbedarf deckt. Eine steigende Zahl von Rentnern kann nur versorgt werden, wenn entweder die Versicherten mehr oder/und länger einzahlen oder die Renten gekürzt werden. Das Problem sei, dass immer weniger arbeiteten, während die Zahl der Nichterwerbstätigen zunehme. Der Rückgang der Geburtenzahl und die steigende Lebenserwartung führten dazu, dass die Zahl der Alten im Vergleich zu den im Arbeitsalter stehenden Personen steige. Neoliberale Ökonomen verlangen aus diesem Grund, die Lebensarbeitszeit zu verlängern und damit die Rentenbezugsdauer zu kürzen.

Es soll Demografen geben, die die Berechnungen über die Zahl der Deutschen und ihre Zusammensetzung bis 2050 für reinen Humbug halten. »Ende des 19. Jahrhunderts«, bemerkte der Kabarettist Peter Ensikat, »sollen Statistiker ausgerechnet haben, dass angesichts der ständig wachsenden Zahl der Pferdedroschken Berlin spätestens im Jahre 1950 im Pferdemist erstickt wäre.« (Ensikat: »Wo der Spaß aufhört«, Berlin 2010, S. 197) Fällt niemandem auf, dass die Zahl der Alten nicht ständig steigen kann, wenn von Jahr zu Jahr weniger Kinder geboren werden? Seit 1964 sinken die Geburtenzahlen in Deutschland, 1972 erstmals unter eine Million pro Jahr. Ab 2012 steigen sie, erreichen 2016 mit 792.141 Geborenen den höchsten Wert seit 2000. In den beiden Folgejahren geht die Zahl wieder etwas zurück. Langfristig entspannt sich die Lage von selbst. Ab 2030 wird die Zahl der Alten sinken. Es ist bezeichnend, dass es Kabarettisten bedarf, um hinter den Schwachsinn der »Sachverständigen« zu kommen. »Nach allem, was uns die Demografen heute voraussagen, sind die Rentner die Einzigen, die sich bei uns noch vermehren … Warum haben die Demografen unseren Müttern nur nicht rechtzeitig prophezeit, dass aus den vielen Kindern, die sie früher unter Schmerzen zur Welt gebracht haben, letztendlich einmal fast genauso viele Rentner würden?« (Ensikat 2010, S. 193 f.)

Es gibt viele vernünftige Vorschläge, das bisherige Umlageverfahren der Rentenfinanzierung zu erhalten, ohne die Lebensarbeitszeit zu verlängern, wozu Menschen in vielen Berufen gar nicht in der Lage sind. So könnte man, um das Beitragsaufkommen der Rentenkassen zu erhöhen, die Beschäftigungslage nachhaltig verbessern, die Mindestlöhne erhöhen und ihre Einhaltung streng überwachen, die Beitragsbemessungsgrenze an- oder aufheben, Niedriglöhne abschaffen, den Trend zu prekären, sozialversicherungsfreien und Minijobs stoppen, die Zuwanderung von Arbeitskräften erleichtern, weitere Bevölkerungsgruppen, zum Beispiel Beamte, Politiker, Freiberufler, in die Pflichtversicherung und außer Lohn und Gehalt auch andere Einkommen in die gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen, die Einstellungsbereitschaft der Unternehmer stärken und die Weiterbildungsmöglichkeiten verbessern. So begrüßenswert das alles ist, bleibt doch Skepsis, ob auf diese Weise die sozialverträgliche Lösung der »Rentenfrage« gelingen kann. Letztlich gehen die Vorschläge davon aus, dass Potential für Wachstum vorhanden sei. In gesättigten und alternden Gesellschaften aber wächst die Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern nicht in dem Maße, das erforderlich ist, um in nennenswertem Umfang neue Arbeitsplätze zu schaffen. Ist es so schwer einzusehen, dass es eines anderen Systems der Finanzierung bedarf, wenn mit dem bisherigen die Probleme nicht mehr gestemmt werden können? Ist ein anderes Finanzierungssystem möglich?

Bei ganzheitlicher, komplexer Analyse erkennt man, dass die sozialen Sicherungssysteme nur vordergründig Interessengegensätze zwischen Jungen und Alten, Kranken und Gesunden, Beschäftigten und Arbeitslosen ausgleichen müssen. Der entscheidende Konflikt ist der zwischen Arm und Reich. Der anhaltende Produktivitätsanstieg und die Erhöhung des Volkseinkommens verbessern die Möglichkeiten, die erwerbslosen Menschen am Wohlstand der Nation zu beteiligen. Das Volkseinkommen pro Kopf der Bevölkerung – vereinfacht die Summe aus Löhnen und Profiten – hat sich von 1991 bis 2018 fast verdoppelt, von 15.404 auf 30.202 Euro. Die Statistik trügt nicht: Es gibt nicht weniger, sondern mehr zu verteilen. Wir haben kein Renten-, sondern ein Verteilungsproblem. Die Gretchenfrage ist, wer in welchem Maße und auf welche Weise am Produktivitätsanstieg und am Wachstum des Volkseinkommens partizipieren soll. Die Zahlen zeigen eindeutig: Eine Gesellschaft, die durch den technischen Fortschritt reicher wird, ist mühelos in der Lage, jene angemessen am Wohlstandszuwachs zu beteiligen, die für die Gütererzeugung nicht mehr benötigt werden oder die aus Altersgründen aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Dazu darf aber das Einkommens- und Vermögensgefälle nicht wie bisher zunehmen.

Die Beibehaltung des bewährten umlagefinanzierten Rentensystems sollte durch eine steuergestützte Finanzierung ergänzt werden. Dabei müssten die Renten nicht mehr an die Entwicklung der Löhne, sondern an die des Volkseinkommens, der Preise und der Produktivität gekoppelt werden. Zuschüsse aus dem Staatshaushalt gleichen die Differenz zwischen dem Aufkommen an Beiträgen und dem Auszahlungsbedarf aus. Die Kombination ist sinnvoll, wenn sie mit einer größeren Steuergerechtigkeit verknüpft wird. Der Fiskus darf den Arbeitenden in Form höherer Abgaben nicht nehmen, was die Rentenkasse den Jüngeren durch den Verzicht auf steigende Versicherungsbeiträge belässt. Ruheständlern aus dem Staatssäckel zu helfen, ist nur recht und billig. Schließlich haben die Alten auch ein Leben lang in jenes eingezahlt. Haushaltsnöte? Geld ist genügend da. Wie lange soll der Bevölkerung zugemutet werden, dass ihre Steuern verschwendet, für Kriegseinsätze verpulvert, für die Rettung spekulierender Banken eingesetzt und als Subventionen an reiche Unternehmen fließen, woraus diese die Produktion von Überschüssen finanzieren? Warum auf Trump hören und zwei Prozent des Sozialprodukts für Rüstung und Militär ausgeben? In Deutschland wären das jährlich etwa 70 Milliarden Euro. Zehn Prozent davon wären angesichts fehlender Bedrohung von außen noch immer mehr als genug. Nicht nur Ausgabenkürzungen an der richtigen Stelle sind möglich. Auch zusätzliche Einnahmequellen gibt es: Man kann unter anderem den Spitzensteuersatz und den Körperschaftsteuersatz anheben, hohe Vermögen und Finanztransaktionen besteuern, Steuerflucht unterbinden und die Erbschafts- und Schenkungssteuer reformieren.

Mit einem neuen Finanzierungssystem kann eine Gesellschaft, die durch die Zunahme der Produktivität immer reicher wird, das nominale Rentenniveau nicht nur garantieren, sondern die Alten am wachsenden Reichtum in angemessener Weise beteiligen. Und sie muss auch nicht das Rentenalter hochsetzen. Es kommt nicht darauf an, wie sich die Relation zwischen Erwerbstätigen zu Nichterwerbstätigen, sondern das Verhältnis des verteilbaren Reichtums einer Gesellschaft zur Anzahl ihrer Mitglieder ändert. Und diese Zahl steigt! Deshalb ist der Sozialstaat prinzipiell in der Lage, ein Rentensystem zu schaffen, dass es den Alten nach einem arbeitsreichen Leben ermöglicht, ab dem 60. Jahr ein entspanntes und ausgeglichenes Dasein ohne Leistungs- und Existenzdruck zu führen. Der Mensch hat das Recht, ab dem 60., spätestens ab dem 65. Lebensjahr gesund und im Einklang mit Seele und Natur seinen Lebensabend zu genießen. Neoliberale Forderungen, die das Gegenteil wollen, sind wirtschaftlich unbegründet und inhuman. Wer länger arbeiten möchte, weil er darin Erfüllung findet, sollte dies dürfen und durch die Gesellschaft dabei unterstützt werden, nicht aber durch Gesetz oder Armut dazu gezwungen sein.


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