Dienstag, 9. Juli 2019

Theatermacher Milo Rau hat nur ein Thema: Kritik der sozialen Gewalt - nun als Vorlesungen

Zerrissenheit als Erfahrung

 

Selbst wer nicht oder selten ins Theater geht, wird in den letzten Jahren möglicherweise mal den Namen Milo Rau gehört haben. Der 1977 geborene und in dem in der östlichen Schweiz gelegenen St. Gallen aufgewachsene Theatermacher hat durch spektakuläre Aufführungen und Aktionen sowie zahlreiche Bücher und Kinofilme auf sich aufmerksam gemacht; er erhielt verschiedenste Preise für seine Arbeiten. 2017 legte er im Rahmen der Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik sein Verständnis von Theater dar und bot Einblick in seine Arbeitsweise.
Unter dem Titel »Das geschichtliche Gefühl - Wege zu einem globalen Realismus« sind die transkribierten Vorlesungen nun als Buch erschienen, ergänzt um Gespräche von Rau mit Harald Welzer und Rolf Bossart sowie einen Essay von Johannes Birgfeld, dem Initiator der Saarbrücker Vorlesungsreihe. Rau hat durchaus ein ausgeprägtes Gespür fürs Geschichtliche - und auch die eigene Historisierung. So ordnet er sich und seine Arbeiten zwischen der letzten postmodernen Generation und der Generation vor der Revolution ein, eine geschichtliche Zwischenstufe also, in der das Alte noch nicht vergangen und das Neue noch nicht zum Durchbruch gelangt ist. Seine drei Vorlesungen hat er entsprechend geordnet: Von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft.
Rau, der unter anderem Soziologie und Germanistik studiert hat und als Journalist arbeitete, gründete 2007 seine Produktionsfirma International Institute for Political Murder (IIPM). Der Name ergab sich aus der nicht realisierten Idee, die Attentate auf Hitler detailgetreu nachzustellen - inklusive explodierender Wolfsschanze und anschließendem Verrotten der Ruinen. Für das IIPM schrieb Rau ein Gründungsmanifest mit dem Titel »Was ist Unst?« - Kunst ohne K, eine realistische Kunst nach der Postmoderne. Es ist nicht so, dass Rau alle bisherige Kunst verwerfen würde, aber er sieht doch deutlichen Bedarf in Hinblick auf die Aufklärung ihrer blinden Verstrickung in Herrschaft. Aus diesem politischen Impuls heraus haben seine Arbeiten im Grunde nur ein Thema: die Kritik der sozialen Gewalt. Als künstlerische Einflüsse benennt Rau die »investigative Anthropologie«, die »Kunst der Mimesis« und die »Propagandakunst«, theoretische Anregungen kommen von Karl Marx über Leo Trotzki und Pier Paolo Pasolini bis Pierre Bourdieu und Heinz Bude. Rau will Gewalt ohne Transzendenz zeigen, die Zerrissenheit zur Erfahrung machen. Die Aufgabe des globalen Realismus, wie er ihn propagiert, ist es, neue Realitäten zu schaffen. Er grenzt dabei einen bürgerlichen Universalismus, den er zynischen Humanismus nennt, von einem marxistischen Universalismus ab. Rau richtet deshalb den Blick auf das globale Proletariat, in Lateinamerika, Afrika und Asien.
Die Arbeiten, die er in den Vorlesungen vorstellt, teilt er in drei Werkgruppen ein. Das ist zunächst die Reenactment-Trilogie: »Die letzten Tage der Ceausescus« (2009), »Hate Radio« (2011) und »Breiviks Erklärung« (2012). Es handelt sich dabei um Anordnungen der Wiederholung. Rau weiß, dass die Wiederholung nicht faktisch wiederholt, sondern das Wesentliche vergegenwärtigt. So grenzt er seine Reenactments von einer rein dokumentarischen Methode ab. Mit der Europa-Trilogie, »The Civil Wars« (2014), »Dark Ages« (2015) und »Empire« (2016), erkundet Rau das spannungsvolle Verhältnis zwischen Schauspiel und Zeugenschaft. Die Darsteller werden gefilmt, ihre Gesichter in Großaufnahme auf Leinwand gezeigt, während sich die einzelnen Geschichten zu der Erzählung eines historischen Verhängnisses verbinden. Als Kommentar zur Europa-Trilogie kann man die Metareflexionen »Mitleid - Die Geschichte des Maschinengewehrs« (2016) und »Five Easy Pieces« (2016) begreifen, die wohl zu den besten Arbeiten von Rau gehören. Die dritte Werkgruppe umfasst aktivistischere Arbeiten wie »Die Zürcher Prozesse« (2013), »Die Moskauer Prozesse« (2013) und »Das Kongo-Tribunal« (2015), aber auch die künstlerisch wie politisch schwächeren »Sturm auf den Reichstag« (2017) und »General Assembly« (2017).
Die Vorlesungen bieten einen guten Einblick in Raus Werk und die damit verbundenen Fragen. Der Regisseur und Autor versucht, seinen Ansatz plausibel zu machen. Über den kann man diskutieren, weil er von einem hohen Problembewusstsein zeugt. Und es liest sich gut, auch weil nebenher ein paar treffende Beobachtungen zu Theatermoden wie Mitmachtheater oder plumpem Aus-der-Rollen-fallen eingestreut sind, deren Beschränktheit Rau kritisiert.
Milo Rau: Das geschichtliche Gefühl. Wege zu einem globalen Realismus. Verlag Alexander, 172 S., br., 16 €.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1122499.milo-rau-zerrissenheit-als-erfahrung.html 


Schlagwörter zu diesem Artikel:

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen