Mexiko: Salvador Campos Gembe über den Kampf gegen den Holzschlag und für die indigene Selbstbestimmung
ila 426, Juni 2019
Gerold Schmidt interviewt Salvador Campos
Gembe
Der mexikanische Bundesstaat Michoacán hat
in den
vergangenen 30 Jahren über 65 Prozent seines Waldbestandes
verloren. Illegaler
Holzschlag ist ein wichtiger Grund dafür. Doch im Landkreis
Cherán mit seinen
gut 20000 Bewohner*innen hat es die indigene
Purépecha-Bevölkerung nicht nur
geschafft, die Kontrolle über ihre Waldgebiete zurückzuerlangen,
sondern sich auch
politisch selbst zu verwalten. Über die Erfahrung der ländlich
geprägten
Kleinstadt Cherán sprach Gerold Schmidt im vergangenen Oktober
während einer
kleinen Deutschland-Rundreise mit Salvador Campos Gembe, der von
2015 bis 2018
dem Obersten Rat von Cherán angehörte.
Wann begann der Widerstand gegen die
illegalen
Waldrodungen?
Der Kampf von Cherán geschah vor dem
Hintergrund von
zunehmender Gewalt im ganzen Land. Unsere Gemeinde versuchte,
ihre Wald- und
Wasserreserven zu schützen und zu verteidigen. Ausgangspunkt war
der 15. April
2011. Auf Initiative der Frauen entschieden wir uns, der
Verwüstung unseres
Waldes ein Ende zu setzen. Damals waren bereits etwa 18000
Hektar Waldfläche
betroffen. Seit 2008 hatte der Holzschlag durch das organisierte
Verbrechen
immer größere Ausmaße angenommen. Das Verhalten der Behörden auf
allen Ebenen
zeichnete sich durch Gleichgültigkeit oder Komplizenschaft aus.
Konkreter
Anlass für unseren Aufstand war die mit dem Holzschlag
einhergehende Zerstörung
einer Wasserquelle, welche die Gemeinde mit Trinkwasser
versorgte. Die Frauen
waren die ersten, die aus Protest die Zugänge zu Cherán
versperrten. Wir entzogen
der Lokalregierung ihre Legitimität und vertrieben die korrupte
örtliche
Polizei.
Damals hatte Cherán auch schon Tote und
Verschwundene zu
beklagen.
Die meisten Opfer gab es vor April 2011
und noch bis
2012. Acht Gemeindemitglieder wurden ermordet, vier weitere
Personen sind bis
heute verschwunden. Diese Verbrechen sind nicht aufgeklärt und
immer noch
straffrei. Die Aufklärung und das Ende der Straffreiheit sind
Forderungen, die
wir auch gegenüber der neuen Regierung erheben werden. Sie ist
der Gemeinde und
den Familienangehörigen der Opfer die Wahrheit schuldig.
Was änderte sich ab 2011?
Wir beschlossen, auf die politischen
Parteien zu
verzichten und uns auf unsere indigenen Wurzeln zu besinnen. Die
Parteien haben
Cherán immer nur gespalten. Wir haben nichts Neues erfunden,
sondern ein altes
bestehendes Modell wiederaufgenommen. In der Gemeinde gibt es
heute drei „Institutionen“:
Die erste ist die Fogata,
die
Feuerstelle. Diese Tradition nahmen wir wieder auf, als wir die
Gemeinde
absperrten und nächtliche Wachen hielten. Die Fogatas sind ein Treffpunkt, wo sich die Nachbarn
über aktuelle
Themen und Probleme austauschen. Dort wird ein Konsens
getroffen, was auf der
nächsten Ebene, der Stadtteilversammlung, diskutiert werden
soll. Die oberste
Ebene ist die Gemeindevollversammlung, auf der die vier Barrios (Stadtteile) Cheráns gemeinsame
Entscheidungen treffen und
den Obersten Rat zusammenstellen. Um es etwas plastischer zu
machen: Innerhalb
jedes Viertels existieren 49 beziehungsweise 50 Fogatas. Von dort kommen die Personalvorschläge,
wer uns die
nächsten drei Jahre regieren soll. Jedes Viertel nennt seine
Kandidat*innen für
die Vollversammlung. Auf der wird seit 2012 der Oberste Rat von
Cherán
bestimmt. Jedes Viertel ist dort mit drei Personen vertreten.
Ich würde da
nicht von einer Wahl sprechen, sondern die Personen, die drei
Jahre lang der
Bevölkerung dienen und für alle regieren sollen, werden dort
bestimmt. Die
Entscheidung fällt, indem sich die Leute hinter „ihre“
Kandidat*innen stellen.
Pro Viertel werden die drei Personen, hinter denen sich die
längsten Reihen
bilden, in den Obersten Rat entsandt. Es gibt außerdem acht
Fachräte für die
verschiedenen Aufgabenbereiche der Gemeinde. Dort haben die
Frauen die
Mehrheit. Im Obersten Rat sind sie noch in der Minderheit. Im
September 2018
hat der dritte Oberste Rat sein Amt angetreten. Die
Veränderungen in Cherán
kommen aber nicht durch den Obersten Rat. Sie hängen davon ab,
wie jeder
einzelne mitzieht. Die Mitglieder des Obersten Rates müssen
regelmäßig vor
ihren Vierteln Rechenschaft ablegen. Wir wissen nicht, wie lange
wir bei den
bestehenden Rahmenbedingungen unser Modell weiterverfolgen
können. Cherán ist
kein abgeschlossener Prozess. Wir müssen uns Tag für Tag neu
beweisen.
Cherán hat vor Gericht sein Recht auf
indigene
Selbstverwaltung mit eigenen Institutionen durchgesetzt. Wie
habt ihr das
geschafft?
Wir haben uns auf den Artikel 2 der
mexikanischen
Verfassung berufen, der uns dieses Recht theoretisch zugesteht.
Wir
beschlossen, unser in der Verfassung festgeschriebenes Recht
beim Wort zu
nehmen. Als wir dieses Recht vor dem Bundesstaat Michoacán und
seiner Regierung
geltend machen wollten, war die Antwort: Auf Bundesstaatsebene
ist ein Gesetz
notwendig, um das Verfassungsgebot umzusetzen. Da Michoacán ein
solches Gesetz
noch nicht verabschiedet hat, ist die Umsetzung nicht möglich.
Wir verklagten
Regierung und Parlament Michoacáns wegen Unterlassung. Der Fall
ging bis zum
Verfassungsgericht. Wir gewannen das Verfahren im Jahr 2012 –
ein Präzedenzfall
in Mexiko! Wir werden aber immer von den politischen Parteien
bedroht sein. Für
sie ist unsere Regierungsform schlichtweg schlecht, denn sie
werden außen vor
vorgelassen. Dagegen steht unsere Einheit als Gemeinde.
Wie habt ihr es erreicht, dass Cherán
inzwischen sicher
geworden ist?
Mit unseren eigenen Instrumenten. Das
organisierte
Verbrechen innerhalb unserer Gemeinde ist ausgebremst. Schwere
Kriminalität
geht heute in Cherán gegen Null. Ausgangspunkt waren auch hier
die Diskussionen
der Fogatas. Cherán
sorgt durch die
gemeindebasierte Wachpatrouille (Ronda Comunitaria)
selbst für seine Sicherheit. Die Wache besteht aus insgesamt 80
Personen. Sie
sind für den Waldschutz sowie die Überwachung der Zugänge zum
Landkreis und die
Sicherheit innerhalb Cheráns zuständig.
Wie steht es inzwischen um den Wald?
Er regeneriert sich. Wir führen mehrere
Aufforstungsprogramme durch. Cherán wird wieder grün. Wir
sammeln die
Samenkerne der Nadelhölzer, die zu unserer Region gehören, und
ziehen Bäume in
der gemeindeeigenen Baumschule auf. In unserem erfolgreichsten
Jahr hatten wir
2 Millionen Setzlinge. Wenn die Setzlinge eine Höhe von 15
Zentimetern erreicht
haben, pflanzen wir sie aus. Wir versuchen, die Jugendlichen
einzubeziehen. Vom
Kindergarten bis zur Abiturschule verfügt Cherán über 42
Bildungseinrichtungen.
Wir versuchen, den Kindern und Jugendlichen die Kenntnis unseres
Territoriums,
die Wertschätzung unserer Wälder nahezubringen, etwa durch
ausgedehnte
Wanderungen. Wir müssen unser Konsumverhalten ändern. Wir haben
ein
Recyclingprojekt in der Gemeinde angestoßen, das wir aufgrund
fehlender Mittel
aber noch nicht zu 100 Prozent durchsetzen können. Wir sortieren
nach sechs
verschiedenen Müllsorten in Jutesäcken. Und wir haben den Krater
eines
erloschenen Vulkans in ein riesiges Regenwassersammelbecken
umfunktioniert. Bei
voller Kapazität können dort 20 Millionen Liter Wasser
aufgefangen werden. Das
Wasser wird in einer Aufbereitungsanlage zu Trinkwasser für die
Bevölkerung
umgewandelt.
Was können andere Gemeinden von Cherán
lernen?
Wir selber wollten kein fremdes Modell
kopieren und kein
Beispiel sein, das einfach übernommen werden kann. Aber wir
haben gezeigt, dass
wir ohne politische Parteien zurechtkommen. Nur die Einigkeit,
nur der Schutz
der eigenen Ressourcen als Teil der eigenen Kultur, des eigenen
Erbes führt zum
Erfolg.
Das Interview führte Gerold Schmid
Ausführliche Darstellung des Falls Cherán:
http://ceccam.org/sites/default/files/cheran.pdf. Deutsche
Version in Kürze unter: http://ceccam.org/de
Sehr gutes
aktuelles Video (Audio auf Spanisch): Cherán, El gobierno del
pueblo,
https://www.youtube.com/watch?v=-TOJGFxRJMg
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Sorry für den Fehler, was die Quelle anbetrifft - man soll eben
keine Listenmails von unterwegs schicken !!
Bitte die angegebene Korrektur zur gestrigen Mail beachten (siehe unten).
Bitte die angegebene Korrektur zur gestrigen Mail beachten (siehe unten).
Cherán wird langsam wieder grün
Mexiko: Salvador Campos Gembe über den Kampf gegen den Holzschlag und für die indigene Selbstbestimmung
Korrekt
ist ila 425, Mai 2019 (nicht
ila 426, Juli 2019).
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