Mittwoch, 15. Mai 2019

Sächsischer Verfassungsschutz erwähnt #wirsindmehr-Konzert als linksextrem

Zum Konzert #wirsindmehr am 3. September in Chemnitz waren 65.000 Menschen aus der ganzen Region angereist, um gegen die rechten Aufmärsche in der Stadt zu protestieren.
Zum Konzert #wirsindmehr am 3. September in Chemnitz waren 65.000 Menschen aus der ganzen Region angereist, um gegen die rechten Aufmärsche in der Stadt zu protestieren. Quelle: dpa
Dresden
Nach den Neonazi-Ausschreitungen sollte am 3. September 2018 in Chemnitz ein Zeichen gegen Rassismus gesetzt werden: Unter dem Titel #wirsindmehr organisierte die Band Kraftklub ein prominent besetztes Konzert, das als Gegendemonstration zu den rechtsextremen Aufmärschen konzipiert war. Mit dabei: die Toten Hosen, Casper, Marteria, K.I.Z., Trettmann, Feine Sahne Fischfilet – und 65.000 Zuschauer. Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) dankte den Kraftklub-Organisatoren für ihr Engagement. Im Nachhinein stellt sich nun heraus: Der sächsische Verfassungsschutz hat die Veranstaltung, die von der Polizei damals als „friedlich und störungsfrei“ beschrieben und von mehreren TV-Sendern und Internetportalen live übertragen wurde, ins Visier genommen.

„Alerta, alerta, Antifascista“

Laut dem jüngsten Lagebericht des Geheimdienstes, der am Dienstag in Dresden vorgestellt worden war, wird das Konzert als Beweis für Bündnisse von Nicht-Extremisten und Linksextremisten eingestuft. Auf Seite 191 der Ausführungen heißt es: „Sowohl in Redebeiträgen als auch im Rahmen des Auftritts der Band Feine Sahne Fischfilet wurde das Publikum erfolgreich mit ‚Alerta, alerta Antifascista!‘-Rufen zu ähnlichen Rufen animiert. Die Musikgruppe K.I.Z. aus Berlin dankte in ihrer Moderation der Chemnitzer Antifa und dem Schwarzen Block dafür, dass sie in der Vergangenheit die ‚Arbeit der Polizei‘ übernommen hätten.“ Zudem wurde mehrmals „Nazis raus!“ gerufen. Der Verfassungsschutz spricht in diesem Zusammenhang von einer „immensen Breitenwirkung“.
Es ist nicht das erste Mal, dass sich ein Verfassungsschutz unter anderem für die Band Feine Sahne Fischfilet interessiert: Auch im heimischen Lagebericht war die aus Mecklenburg-Vorpommernstammende Band vor einigen Jahren erwähnt worden. Inzwischen führt der dortige Inlandsgeheimdienst die linke Politpunkband allerdings nicht mehr als extremistisch.

Behörden von rechter Mobilisierung überrascht

Dagegen waren die sächsischen Sicherheitsbehörden von den vorausgehenden Zusammenschlüssen von Neonazis und „Bürgern aus der Mitte“, die die Gewalt in Chemnitz nach der tödlichen Messerattacke auf einen Deutschen eskalieren ließ, überrascht worden. Innenminister Roland Wöller (CDU) hatte erst am Montag in einem LVZ-Interview den Aufbau eines sogenannten Radikalisierungsradar Rechts folgendermaßen begründet: „Hintergrund war die hohe Mobilisierungswucht von Rechtsradikalen und gewaltbereiten Hooligans im Internet und den sozialen Netzwerken durch sogenannte Smartmobs, die uns in Chemnitz überrascht hat. Deshalb müssen wir die Früherkennung verstärken und haben bereits bei den Social-Media-Teams personell nachgelegt.“
Dass das Konzert „Wir sind mehr“ nun offiziell vom Verfassungsschutzals Beispiel für linksextremistische Umtriebe eingestuft wird, hat vor allem in den sozialen Netzwerken einen Proteststurm ausgelöst. Der Tenor lautet: Damit werde die häufig - auch von Politikern eingeforderte - Zivilcourage diskreditiert. Kritisiert wird zudem, dass auch das sächsische Bündnis „Polizeigesetz stoppen“ in dem Lagebericht des Verfassungsschutzes erwähnt wird. Dem breiten Bündnis haben sich mehrere tausend Unterstützer angeschlossen, darunter auch die Linken und die Grünen.

Linke und Grüne: Verfassungsschutz auflösen

Aufgrund dieser Einstufungen nennt der Linke-Fraktionschef Rico Gebhardt die Arbeit des Verfassungsschutzes in Sachsen „hoch problematisch“. Das Landesamt für Verfassungsschutz übe „die Definitionsgewalt über politische Einstellungen aus, die als extremistisch kategorisiert werden“, erklärt Gebhardt und fordert: „Auflösen!“. Unterstützung kommt von den Grünen. Ex-Landeschef Jürgen Kasek schreibt auf Twitter: „Das ist Sachsen. Faschoschutz. Verfassungsschutz auflösen.“ Auch die Grünen-Politikerin Annalena Schmidt kritisiert: „Wenn Konzerte wie ‚Wir sind mehr‘ im Verfassungsschutzbericht auftauchen, haben wir wohl ein noch größeres Problem als das, das ich bisher sah.“ Gleichzeitig lud sie die Band Feine Sahne Fischfilet, die auch schon bei großen Festivals wie dem Highfield aufgetreten ist, nach Bautzen ein. Der Grünen-Innenpolitiker Valentin Lippmann meint: Wer so arbeite wie der sächsische Verfassungsschutz, habe „seine Daseinsberechtigung verloren“.

AfD sieht sich als Opfer der Linken

Die AfD sieht sich hingegen bestätigt. „Dass der Kampf gegen den Linksextremismus in Sachsen erst am Anfang steht, zeigt auch die Tatsache, dass 2018 über 40 linksextreme Konzerte stattfanden. Noch fühlen sich die Linksextremen sicher, weil sie Solidaritätsbekundungen von Nichtextremen bekommen“, sagt der AfD-Landtagsabgeordnete Carsten Hütter. In einer entsprechenden Pressemitteilung heißt es außerdem, seine Partei sei „Hauptziel von linksextremer Gewalt“ - das hat der Verfassungsschutz in dieser Weise allerdings nicht bestätigt.
Den vollständigen Verfassungsschutzbericht 2018 finden Sie unter: www.verfassungsschutz.sachsen.de

Von Andreas Debski

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