Donnerstag, 6. Dezember 2018

Gemeindeschwestern erzählen (Maria Michel)


Wem fällt da nicht die beliebte Serie des DDR-Fernsehens der siebziger Jahre über »Schwester Agnes« ein, die auf ihrem Moped »Schwalbe« bei Wind und Wetter angebraust kam? Tausende hatten die Serie gesehen, und Tausende Gemeindeschwestern waren der Agnes ähnlich. Die aufopferungsvolle Arbeit der Gemeindeschwestern, die hohes Ansehen genossen, wurde anerkannt. Die Journalistin Marion Heinrich – ehemalige Pressesprecherin von Gesine Lötzsch – macht uns in ihrem Buch »Gemeindeschwestern erzählen« mit zehn ehemaligen Gemeindeschwestern bekannt. Deren Alltag war schwer, aber sie genossen Vertrauen, trugen Verantwortung, und oft gelang es ihnen, mit Ideenreichtum Engpässe in der Versorgung mit medizinischem Material zu lösen. Ihre Erzählungen sind berührend und oft auch humorvoll. Hervorragend ausgebildet, füllten die Gemeindeschwestern in der DDR Lücken der ärztlichen Versorgung auf dem Land. Ihr oberstes Ziel war der Dienst am Menschen; Tag und Nacht waren sie einsatzbereit. Sie konnten frei entscheiden und retteten oft Leben. Die zehn Befragten erinnern sich übereinstimmend: »Die Zeit als Gemeindeschwester war die schönste in meinem Leben.«

»Das ganze Dorf will sie« ist ein Kapitel in Marion Heinrichs Buch überschrieben. Gut ausgerüstet waren die Gemeindeschwestern-Stationen. Gab es aber Engpässe, wussten sich diese Frauen zu helfen und besorgten das Nötige von anderen Einrichtungen, von der Nationalen Volksarmee zum Beispiel übriggebliebene Einwegspritzen, die wegen des Verfallsdatums sonst entsorgt werden mussten. Unsere Gemeindeschwestern waren Mädchen für alles: Krankenschwester, Fürsorgerin, Seelsorgerin, Telefonzentrale, Organisatorin. Einer dieser Schwestern, Regina Nowak aus Droyßig, fehlt jetzt in einer Welt der Oberflächlichkeit und Gleichgültigkeit das wunderbare Wir-Gefühl von damals: »Warum schaut heute niemand mehr richtig hin? Sind wir dazu überhaupt noch fähig?« Schwester Regina Müller aus Bermsgrün bekennt: »Man muss mit dem Herzen sehen.« »Alle meine Aufgaben habe ich mit Freude erfüllt, wenngleich oft wenige Freiräume für mich blieben. Man muss nicht alles haben. Im Geben wird man selbst beschenkt – manchmal noch nach vielen Jahren«, sagt Schwester Christine Jeiter aus Wernsdorf. Schwester Tilli Kaiser aus Spreenhagen beschreibt eine schwere Zeit: »Ärzte hatten wir damals nicht genug und Schwestern auch nicht, weil jeder, der ausgelernt hatte, oft rüberging, weil man ja drüben sehr gut verdient hat. […] Im Notfall musste die Schwester in der Lage sein, einen Blinddarm allein zu operieren.«

Sie waren einfach unersetzlich, unsere Gemeindeschwestern. Doch Ende 1990 wurden rund 5500 Gemeindeschwestern-Stationen geschlossen. Sozialstationen und die Diakonie übernahmen die Versorgung der Bürger. Die Gemeindeschwestern wurden schlecht bezahlte Arzthelferinnen ohne eigene Befugnisse. Ärzte machten sich selbständig und arbeiten wie Unternehmer, Krankenhäuser sind nun Konzerne, die Gesundheit wurde zur Ware. Im Vorwort rät Gesine Lötzsch: »Die Erfahrungen der ehemaligen Gemeindeschwestern aus der DDR sind von unschätzbarem Wert. Es lohnt sich, sie aufzuschreiben und zu bewahren, um sie wieder nutzbar für das Allgemeinwohl, für uns alle zu machen.«

In vier Bundesländern (Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt) lief von 2005 bis 2008 ein Modellprojekt namens »AGnES«. Die Name erinnert zwar ein wenig an alte Zeiten, hatte aber eine ganz andere Bedeutung: Arztentlastende Gemeinde-nahe E-Health-gestützte Systemische Intervention. Ist doch ganz einfach, oder? Den Begriff »Gemeindeschwester« konnte man doch aus dem »Unrechtsstaat« nicht übernehmen! Das wäre ja DDR! Schließlich wurden auch aus unseren Polikliniken Ärztehäuser. Das Brandenburger Ministerium für Arbeit, Soziales, Frauen und Familie pries das Modellprojekt und überführte diese Versorgungsform 2009 in die Regelleistung als »Entlastung der Hausärztinnen und -ärzte […] zur Sicherstellung der hausärztlichen Versorgung der Bevölkerung in unterversorgten Gebieten«. Aus der AGnES-Fachkraft wurde zum 1. April 2009 die »nicht-ärztliche Praxisassistentin«. 2011 setzte das Land Brandenburg ein neues Modellprojekt auf: »AGnES Zwei«. In der Märkischen Oderzeitung war Ende 2016 zu lesen, dass die »AGnES-Zwei-Kräfte als Lotsen durch das komplexe Gesundheitssystem« führen, das Modell sei »bundesweit einmalig«. Also fort vom Patienten, runter von der Schwalbe und hinein in die Bürokratie! Es gibt noch Uneinigkeiten zur Finanzierung.

Alles weit weg von unserer beliebten Schwester Agnes. Schade! Walter Kaufmann brachte es in einem Interview mit der Tageszeitung junge Welt am 10./11. November 2018 auf den Punkt, als er daran erinnerte, nach 1989/90 sei eine Chance vertan worden, die guten Seiten der DDR, von denen es sehr viele gab, in die Nachwendezeit hinüberzuretten.


Das Buch »Gemeindeschwestern erzählen« von Marion Heinrich, erschienen 2010 im Verlag Neues Leben (192 Seiten), ist zwar im Buchhandel nicht mehr zu haben, kann aber bei der Autorin für 10 Euro bestellt werden (heinrichmari@t-online.de oder 0175/1436674).

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