Donnerstag, 6. Dezember 2018

Auf Augenhöhe (Renate Hennecke)


Alexander Diepold ist Geschäftsführer, aber um Geschäfte geht es bei ihm nicht. Seine Firma ist eine gemeinnützige GmbH, die Beratungsstelle für Sinti und Roma »Madhouse« in München. Mit mittlerweile 30 Angestellten feierte sie im vorigen Jahr ihr 30-jähriges Jubiläum.

Alexander Diepold ist Jahrgang 1962. Drei Monate nach seiner Geburt kam er ins Kinderheim. Bis zu seinem 17. Lebensjahr erlebte er in sieben verschiedenen Einrichtungen alles: die ganze Brutalität der Erziehungsmethoden, die bis in die 1970er Jahre (nicht nur) in den Heimen üblich waren, und die liebevolle Hingabe, mit der manche katholische Schwester für ihre »Heimkinder« sorgte. Früh machte er sich Gedanken darüber, wie es seiner Meinung nach in einem Kinderheim zugehen sollte. Mit 18 arbeitete er als Präfekt in einer Einrichtung, mit 23 wurde er Deutschlands jüngster Heimleiter. Obwohl er keine entsprechende Ausbildung hatte (die holte er später nach), wurde er aufgrund seiner Erfolge von der Regierung des bayerischen Regierungsbezirks Schwaben als Fachkraft für Heimerziehung anerkannt. Mit besonderem Engagement betreute er Kinder und Jugendliche, die als so schwierig galten, dass keine Einrichtung sie aufnehmen wollte. Sinti-und Roma-Kindern ermöglichte er die Rückkehr in ihre Familien.

Dass er selbst ein Sinto ist, erfuhr er erst als Erwachsener. Die Entscheidung, ob er sich outen sollte, war nicht leicht. Würde sich das nicht negativ auf seinen Stand bei Behörden und in der Öffentlichkeit auswirken? Auf Drängen der Sinti und Roma, mit denen er zunehmend arbeitete, entschied er sich dafür. »Mein Anliegen war allerdings nicht, nur soziale Probleme zu bearbeiten und den Fokus allein darauf zu richten, sondern ganzheitlich, das ganze Leben und die Kultur, die die Sinti erst ausmachen, in die Öffentlichkeit zu bringen«, sagt Diepold dazu. »Mein Ziel ist Empowerment für Menschen, die mehr oder weniger in geduckter Stellung leben müssen, weil sie ansonsten allein aufgrund ihrer Abstammung diskriminiert werden können.« Das bedeutete Öffentlichkeitsarbeit, die den kulturellen Wert, die Bereicherung der Gesellschaft durch Sinti und Roma in den Vordergrund stellt. »Es war ein vollkommen neues Aufgabenfeld, das allerdings Parallelen hat zu Diskriminierungsformen, die ich als Kind in Heimen erfahren habe.«


Ein bundesweites Zeitzeugenprojekt
Es war nur logisch, dass Alexander Diepold die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Heimerziehung, die in den späten 1970er Jahren einsetzte, aufmerksam verfolgte. Sein aktueller Beitrag zu dieser Diskussion ist das Projekt »Der lange Schatten des Völkermords an Sinti und Roma – Heimkindheit der Nachkriegsjahre bis 1975«, dessen Ergebnisse am 27. Oktober bei einem Fachtag in der Evangelischen Stadtakademie München präsentiert und diskutiert wurden. Im Rahmen dieses bundesweiten Zeitzeugenprojekts wurden ehemalige Heimkinder interviewt, die Sinti beziehungsweise Roma oder Jenische und gleichzeitig Betroffene von Missständen in Heimen der Nachkriegsjahre bis 1975 sind. Maria Anna Willer, die schon die Erinnerungen des Sinto Peter Höllenreiner aufgeschrieben hat (»Der Junge aus Auschwitz – Eine Begegnung«), führte die Interviews und übernahm die redaktionelle Bearbeitung. Auszüge daraus wurden im ersten Abschnitt des Fachtags vorgestellt.

Eine große Rolle in den Berichten der ehemaligen Heimkinder spielen die Erfahrungen von Hunger, Angst, Gewalt, demütigenden Strafen sowie von Heimweh und Einsamkeit. Alexander Diepold berichtet in seinem Interview darüber hinaus über unterdrückte Sexualität und Ausgeliefertsein gegenüber sexuellen Übergriffen, ohne dass es möglich war, sich jemandem anzuvertrauen.


NS-Verfolgung und Heimkindheit
Sehr deutlich wird in den Interviews der enge Zusammenhang zwischen dem Heimkind-Schicksal und dem NS-Völkermord an den Sinti und Roma. Vollständige Ausrottung der »Zigeuner« war das Ziel der Nazis gewesen. Praktisch jede Familie war davon betroffen. Ein großer Teil der Verwandtschaft war ermordet, die Überlebenden schwer traumatisiert und an ihrer Gesundheit geschädigt. Ihr früheres Eigentum war geraubt oder zerstört. Entschädigung erhielten sie nur in wenigen Fällen. Auch dauerte es Jahre, bis sich die überlebenden Familienangehörigen wieder zusammenfanden. Dabei ging die Ausgrenzung und Diskriminierung weiter und schlug neue psychische und physische Wunden. So waren die Eltern häufig nicht in der Lage, für ihre Kinder zu sorgen. Die Mutter von Ilonka H. beispielsweise musste immer wieder für längere Zeit ins Krankenhaus. Ilonka und ihre drei Geschwister kamen dann ins Heim. Erst später konnte der Kontakt zu Verwandten wiederhergestellt werden, die die Kinder in solchen Zeiten in Obhut nahmen. Oder Amalie S.: Nachdem ihre Mutter gestorben war, kam sie 1933, mit zwei Jahren, in das Augsburger Waisenhaus »Josephinum«, mit vier Jahren zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Anna ins Katholische Kinderheim Augsburg-Hochzoll, wo sie bis 1948 blieb. Auch ihr älterer Bruder Ernst lebte dort. Wegen »Unerziehbarkeit« wurde der lebhafte Junge 1940 über Zwischenstationen in die »Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren« und deren Außenstation Irsee abgeschoben und dort 1944 im Zuge des »Euthanasie«-Programms mit Giftspritzen ermordet.

Nach dem Ende der Nazi-Herrschaft wurde in den Familien geschwiegen. Die Eltern schwiegen über ihre Erlebnisse in Auschwitz, die Kinder über ihre schmerzhaften Erfahrungen im Heim. Man wollte sich gegenseitig nicht belasten. In den Interviews wird teilweise das Positive hervorgehoben, Spiele, Ausflüge oder Feiern. Aber man spürt Leerstellen, Bruchstellen. Manches ist noch heute zu schmerzhaft, um es auszusprechen.


Die Fachvorträge
Der Nachmittag des Fachtages gehört den Fachleuten. Uta Horstmann, ehemalige Sozialarbeiterin im Jugendamt der Stadt München, die über Jahrzehnte mit den Sinti-Familien für eine Verbesserung von deren Wohn- und Gesamtsituation gekämpft hat, fordert vehement die Aufarbeitung der Rolle der »Fürsorge« im »Dritten Reich« bei der Verfolgung der Sinti und Roma. Sie weist darauf hin, dass nicht nur die Nazis den Sinti- und Roma-Familien ihre Kinder entrissen, sondern schon vorher und auch nachher vielfach die Einstellung herrschte, diese Kinder könnten nur im Heim zu »anständigen« Menschen erzogen werden. Kein Wunder, dass die Familien oft bis heute eine negative Einstellung gegenüber dem Jugendamt haben.

Ulrich Lorenz, heutiger Leiter der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe Hochzoll (einer Nachfolgeeinrichtung des früheren Katholischen Kinderheims Augsburg-Hochzoll), berichtet über den Weg, den Mitarbeiter/innen und Vorstand seiner Einrichtung eingeschlagen haben, um sich der Vergangenheit zu stellen und in offener Auseinandersetzung damit Gegenwart und Zukunft neu zu gestalten. Sichtbares Zeichen dafür ist ein Mahnmal, das im Hof der Einrichtung errichtet wurde und die Bitte um Vergebung ausspricht.

Über die Bedeutung eines Heimaufenthalts für ein Kind aus psychologischer Sicht referiert der Diplompsychologe Aldo Rivera, Mitarbeiter von Madhouse. Seine These, die Unterbringung eines Kindes bei Familienangehörigen sei der Heimunterbringung stets vorzuziehen, wird in der anschließenden Diskussion in Frage gestellt, die Bedeutung der Entwicklung tragfähiger menschlicher Beziehungen hervorgehoben. Der Begriff der »Resilienz« wird diskutiert und nach deren Grundlagen gefragt: Woher beziehen manche Kinder die Stärke, sich auch unter ungünstigen Bedingungen zu selbstbewussten und empathiefähigen Menschen zu entwickeln? Der Glaube wird genannt. Wichtig, so lautet eine These, sei auch das Vertrauen, dass man Fehler machen darf. Früher sei die Heimerziehung auf Perfektion ausgerichtet gewesen; Fehler seien mit Demütigung und Ausgrenzung bestraft worden. Unter solchen Bedingungen könne man keine eigenen Erfahrungen machen und seine Fähigkeiten nicht entwickeln. 


Ein Blick in die Psychiatrie
Als »Überraschungsgast« kann die Moderatorin Maria Anna Willer schließlich den ehemaligen Leiter des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren, Michael von Cranach, Facharzt für Psychiatrie, begrüßen. Unter seiner Leitung wurde seit 1975 intensiv über die Geschichte der Euthanasie in Kaufbeuren geforscht. Rund 2400 Patienten wurden in der damaligen »Heil- und Pflegeanstalt« umgebracht, unter ihnen Ernst Lossa, der Bruder der Zeitzeugin Amalie S. Mit dessen Geschichte hat sich von Cranach besonders beschäftigt. Sie belegt, dass der Euthanasie nicht nur kranke Menschen zum Opfer fielen, sondern auch solche, die aus anderen Gründen aus dem Weg geräumt werden sollten.

Von Cranach schildert den mühevollen Weg der Auseinandersetzung mit diesem Teil der Vergangenheit, bis hin zu der Gedenkstunde im Bundestag am 27. Januar 2017, bei der dieses Thema im Mittelpunkt stand.
Sein Fazit lautet: Große Institutionen sind für die Menschen nicht hilfreich. In verschiedenen Ländern wurden daher die psychiatrischen Anstalten geschlossen und durch dezentrale Einrichtungen wie WGs und Ähnliches ersetzt. Bayern allerdings weise bezüglich der psychiatrischen Anstalten bis heute die höchste Heimdichte auf.

Optimistisch sieht es Alexander Diepold in seinem Schlusswort: Die Institutionen haben sich verändert. Heute sei ein menschenrechtliches Bild vorherrschend. Es gelte, das Gefälle aufzuheben zwischen Erziehendem und Erzogenem. Beide müssten sich auf Augenhöhe begegnen. Diepold: »Es ist – auch in einer Einrichtung – zu schaffen, das zeigt die eigene Erfahrung.«

Eine Begleitbroschüre zu der Fachtagung mit Interviews von Zeitzeug/innen und Zusammenfassungen der Fachvorträge kann von der Website von »Madhouse München« heruntergeladen werden (www.madhouse-munich.com).

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