Montag, 12. November 2018

Realismus auf der Bühne – ein Vortrag. Über die Theaterkunst im Werk des Dramatikers Peter Hacks

Abbildung und Ideal


Von Peter Schütze
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Mit Eberhard Esche, der in vielen Hacks-Stücken spielte, verband den Dramatiker nicht nur eine tiefe Freundschaft, sie teilten auch ästhetische Überzeugungen – Dieter Franke, Cox Habbema und Erberhard Esche (v. l. n. r.) in Peter Hacks’ Erfolgsstück »Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern« am Deutschen Theater (11.10.1975)
Peter Schütze ist Autor, Literaturwissenschaftler und Dramaturg. www.peter-hacks-gesellschaft.de
Unter dem Motto »›Mensch sein ist Ursach sein‹. Realismus auf dem Theater« fand am vergangenen Sonnabend in Berlin die elfte wissenschaftliche Tagung der Peter-Hacks-Gesellschaft statt. Wir dokumentieren im folgenden den leicht gekürzten Vortrag des Literaturwissenschaftlers und Dramaturgen Peter Schütze. (jW) »Ich interessiere mich nicht für Theater.« Es klingt einigermaßen kokett, wenn man solche Worte aus dem Munde eines Theaterdichters vernimmt. Aber wir lassen uns nicht provozieren und widersprechen auch nicht. Was Peter Hacks (1928–2003) uninteressant findet, das sind die Proben und ihre Vorbereitung. Schon das Feilschen um Änderungen mit Regisseuren wie Benno Besson, der dafür gern Besprechungen ansetzte, widerte ihn an. Brechts Proben schwänzte er nach Möglichkeit, nicht eben zur Freude des Meisters. Das Ergebnis freilich, das Drama in Bühnengestalt, war ihm keineswegs einerlei. Es liegt aber der Verdacht nahe, dass man nicht viel von ihm zu erwarten habe, was die praktische Theaterarbeit betrifft. Immerhin, über die Mittel, die das Theater einsetzt, um zu seinem Zweck zu gelangen, weiß Hacks uns einiges zu sagen. Aber er tut das stets aus dem Blickwinkel des Dramas, im Hinblick auf dessen Zweckbestimmung. Diese ist zwar die Aufführung, und die Aufführung hat die Seiten Literatur und Spiel. Vorausgesetzt, das Theater führe dramatische Literatur auf. Das aber ist nicht unbedingt die Regel. Drama und Theater sind zwei Seiten nicht nur einer Münze.

Drama und Theater

Fangen wir behutsam an. Das Drama ist, zumindest sind die meisten Dramen, zu dem Zweck geschrieben, dass sie im Theater aufgeführt werden. Erst die »Behandlung, durch welche ein Drama vortrefflich für die Aufführung wird«, verleiht dem poetischen Text seinen dramatischen Wert. Das sagt jedenfalls Hegel. Dennoch hat das Drama durchaus Eigengewicht und bleibt Drama, auch wenn es nicht gespielt wird; es behält auch unabhängig von einer Aufführung seinen Kunstwert. Der aber wird mitbestimmt durch eine Form, die bühnengerecht sein muss – dem inneren Aufbau nach und im stimmigen Bezug seiner Teile zueinander. Jede Analyse eines Dramas prüft auch dessen Eignung fürs Theater. Im Begriff des Dramas sind jedoch, nach Hacks zumindest, nicht nur seine dramaturgische Übersichtlichkeit, sondern sind auch die poetische Welterfassung, die politischen Dimensionen und historischen Analogien, welche die Dichtung vorbringt, enthalten: »Lässt sich Geschichte vermittelt über Leute erzählen? Von dieser Frage hängt Drama ab«. Die gedrungene und in sich konsequente Form der literarischen Gattung kann das Theater von sich aus nicht erzeugen; umgekehrt aber steige es dort, wo und dann, wenn es vermag, sich die Qualitäten des Dramas zueigen zu machen, zu seinen überzeugendsten Leistungen und größten Triumphen auf. Was nur fürs Theater gearbeitet wurde, verschwindet mit den Moden des bühnenmäßig Veranstalteten.
Daher war das Theater im heutigen, in seinem Sinne für Hacks »eine Stätte, wo ein Drama seinem Wollen und seiner Handlung nach richtig vorgeführt wird«. Dieser Anspruch sei spätestens seit Max Reinhardt (1873–1943) und Konstantin S. Stanislawski (1863–1938) in der Welt; warum sollte man dahinter zurückfallen? Theater bringe das sorgfältig analysierte und kapierte Drama auf die Bühne und dort, wo – wie bei Shakespeare, Molière, Brecht – Drama und Aufführung in Personalunion fabriziert werden, kann es zu einer Identität von dichterischer Intention und theatralischer Interpretation kommen, die wiederum im Prozess der Proben über Verwerfungen, Änderungen usw. zum Ziel gelangt.
Eng verknüpft mit seiner Theorie des Dramas war Hacks’ Realismus-Vorstellung, die sich im gleichen Maß wie jene veränderte. Beschäftigt noch mit der Entwicklung eines neuen Genres und beeinflusst von Brechts Methoden schrieb er 1957: »Das proletarische Volksstück ist das realistische Theaterstück«. Das aber musste nicht dauerhaft gelten: Gesellschaftlicher Wandel stellt auch die Künstler vor veränderte Aufgaben; eine realistische Haltung muss, vor aller stilistischen Entscheidung, diesen registrieren und ihm Rechnung tragen. »Realismus setzt die Kenntnis der Wirklichkeit voraus. Kenntnis der Wirklichkeit ist nur vom marxistischen Standpunkt her zu erlangen.« Das heißt auch: Realismus erheischt eine dialektische Form. 1976 definiert Hacks Realismus als »die genaueste Widerspiegelung der statthabenden gesellschaftlichen Wirklichkeiten sowie deren fortdauernde Hochrechnung auf die Wirklichkeiten und Möglichkeiten einer billigenswerteren Menschheit hin« und identifiziert diese mit dem meist als idealistisch missverstandenen klassischen Verfahren. Realität in ihren Dimensionen erkennbar und bedeutend vorgebracht: Das ist das Anliegen. Realismus im Theater: Das ist die nachvollziehbare Objektivität eines poetischen Ganzen, die Probe auf seine Evidenz, könnte man sagen. Die Vorstellung, Realismus sei sozialistischer Naturalismus, ist so abwegig wie, seinerzeit, die Idealisierung des Erreichten trotz all seiner Unzulänglichkeit.
Kann Theater, das auf die der dramatischen Vorlage gemäße Umsetzung verzichtet, überhaupt realistisch sein? Nach solchen Definitionen nicht. Wenn aber die wahre Aufgabe des Theaters ist, Dramen ihrem Wollen und ihrer Handlung nach vorzuführen, dürfen dann Veranstaltungen, die sich davon gelöst und/oder die Trennung von Zuschauerraum und Bühne aufgehoben haben, noch den Namen »Theater« für sich beanspruchen? Wir befinden uns hier auf schlüpfrigem Boden; denn die öffentlichen Häuser, die aufs Drama verzichten, wollen sich auch weiterhin als Theater verstanden sehen und nennen sich auch so; und wenn Hacks »Theater« als seinem Wesen nach literaturfeindlich erkennt, dann versteht er beide auch praktisch als unabhängig voneinander. Und er befreit sich aus dem Dilemma durch Sätze wie »Das bloß Theatralische nämlich macht kein Theater. (…) Drama ohne Theater ist Kunst, Theater ohne Drama kann, was immer es sein mag, nicht Kunst sein.« Realismus ist für Hacks eine unabdingbare Voraussetzung für Kunst. Beides ist jedoch nicht identisch. Erst als poetisches Werk kann das Drama diesen Titel beanspruchen. Zur Kunst gehören nach Hacks auch Mittel des Unwirklichen und Märchenhaften, die aus ästhetischen Gründen – der Forderung nach einer Vermählung von Vorhandenem und Wunsch, Vergangenem und Zukunft, Missbehagen und Aussicht auf Gebessertes – zur Schönheit des Werkes beitragen. Diese wiederum beruht darauf, dass, nach Hacks, Unbefriedigendes auf befriedigende Weise, in gelungener Form, dargestellt werde.
Wir haben es nun mit einer Grundsatzentscheidung zu tun. Lehnen Sie den Theaterbegriff von Hacks, Hegel und einigen anderen altväterlichen Personen gänzlich ab, dann kann alles Folgende für Sie gestrichen werden, dann müssen Sie nicht weiter zuhören, dann fallen die Vorschläge des Dichters Hacks bei Ihnen auf keinen fruchtbaren Boden. Die sind allesamt ein Plädoyer dafür, die dramatische Kunst als Voraussetzung für Theaterkunst nicht zu verlieren. Wenn Sie einverstanden sind, besteigen wir jetzt die Brücke vom Schreibtisch zur Bühnenpraxis. Die Frage lautet: Wie theatralisch sind die Stücke von Hacks? Wie brauchbar sind seine Vorschläge?

Didaskalien

Das Wort Didaskalien steht für alle die Erklärungen und Anweisungen, die ein Dramentext für das Spiel auf der Bühne bereitstellt. Es sind alle die Hinweise, Angaben und Gestaltungsmittel, mit denen ein Stück vorschreibt, wie es umzusetzen sei. Mit expressis verbis gegebenen Regieanweisungen hielt Peter Hacks sich eher zurück. Weniger freilich in den vorklassischen Stücken. Da begegnen wir häufig szenischen Erfindungen und Aktionen, bisweilen witzig bis zur Albernheit, Lazzi, die der Autor einbaut und die sein theatralisches Temperament verraten. Er beschreibt dort wie in »Die Sorgen und die Macht« noch Vorgänge bis ins Detail. In »Polly« finden wir dann nur noch die notwendigsten Angaben wie Auftritte und Abgänge, während im »Frieden« und der »Schönen Helena« zahlreiche Vorgänge, mehrfach auch die Charaktere deutlich beschrieben werden: »Kalchas, den man gezwungen hat mitzutanzen, sinkt erschöpft auf der Treppe nieder. Man belebt ihn mit rotem Wein, den man aus einem Weinschlauch in seinen Mund spritzt.« – »Diese Kinder sind sehr reich und sehr lustig (…). Wir werden später Ursache haben, Einwände gegen sie zu haben. Im Moment finden wir sie frech, fröhlich, oppositionell und sympathisch.« Solche Einlassungen erinnern an das Verfahren George Bernard Shaws. An Shaw erinnert auch die Angewohnheit unseres Dichters, seine Bühnentexte durch Essays und Vorreden zu ergänzen und zu erläutern. Die Bühneneinfälle und erklärenden Hilfestellungen werden im Lauf der Zeit jedoch immer sparsamer eingesetzt; Aussehen, Alter, Charakter einer Figur werden nicht mehr direkt erläutert.
Die Bühnentexte beanspruchen, außer der Sorgfalt und dem realistischen Vermögen des Regisseurs, dessen Phantasie und Findigkeit, mit der er ausmacht, welche Chancen sie ihm auf den Brettern bieten. Wer nicht mit bühnenpraktischem Sinn begabt ist und die Stücke liest, dem kann es ergehen wie dem Kritiker Joachim Kaiser, der einst über die »mühsame« Lektüre des »Jahrmarktfests zu Plundersweilern« maulte und sich angesichts der Aufführung in den Münchner Kammerspielen wunderte, dass dieser Text »soviel theatralische Qualität, soviel Aufführungspotenz« berge. Im allgemeinen reduziert Hacks auch seine Angaben über Ort und Zeit des Geschehens auf das Notwendigste und wird nur ausführlicher, wenn es darum geht, eine Grundsituation zur Entfaltung des Spiels festzulegen – wie für »Senecas Tod« und »Pandora«, ausführlicher für »Barby«. Ein typisches Beispiel gibt »Jona«: »Ninive, Tigris-Terrassen der Königsburg. Die Handlung spielt Ende des 9. Jahrhunderts.«
Das aber möchte Hacks auch dargestellt sehen. Hacks liebte Dekor und alte Möbel. Nicht von ungefähr beschäftigte er sich auch mit dem Handel von Antiquitäten. Er verachtete gegenstandslose, rein abstrakte Kunst, die ihm sinnlos vorkam. Er hielt an Gediegenem fest, auch was den Bühnenraum anging. Seine Stücke sind für den Guckkasten entworfen, die »Bühnenform der Neuzeit«, ausgestattet mit der Kulissenbühne, welche »die richtige Weise zuzuschauen« biete: Sie »ist der Ort und ist der Ort auch nicht«, sie verbinde »vollständige Nachahmung und vollständige Künstlichkeit«: »Der vorläufig letzte stimmige Ausstattungsstil war der der Meininger.« (Das Meininger Hoftheater erlangte ab den 1870er Jahren internationale Bekanntheit mit seinen an historischer Korrektheit und Detailtreue orientierten Inszenierungen, jW) Dennoch meint er kein Bilderbuch. Der Max Brückner (1836–1919) der Neuzeit war für Hacks Karl von Appen (1900–1981), der großartige Ausstatter und Bühnenmaler Brechts und des Berliner Ensembles. Anderen Raumlösungen stand Hacks skeptisch bis ablehnend gegenüber. Mit größtem Vergnügen aber sah er Klaus Dieter Kirsts Dresdner Uraufführung von »Adam und Eva«, für die Manfred Grund eine im naiven Stil gehaltene Dekoration schuf – ganz nach Hacks’, auch aus damaliger Sicht, etwas altmodischem Geschmack.
Hacks wünschte sich, bei aller Liebe zu den kleinen Genres, ja, zum Trivialen, ein »großes« Theater, das in der Lage ist, die Welt auch räumlich in sich aufzunehmen und zu präsentieren und Glanz und Pomp nicht zu scheuen, wie vor ihm, übrigens, auch Schiller. Er streift jedoch die noch unter dem Einfluss Brechts verfochtene Meinung ab, das Theater müsse Bühnenraum auch für das »Volk« stellen, für größere Menschenmengen, und füllt die Bühne nicht mehr mit einer Vielzahl von Personen, sondern sendet einzelne auf die Bretter, die das soziale Ensemble der Dramenwelt vertreten: Was braucht es die Soldateska, wenn ich die Generäle habe? wendet er gegen eine Inszenierung von »Wallensteins Lager« ein und empfiehlt, diesen Teil der Trilogie komplett zu streichen. So in einem Brief an Eberhard Esche (1933–2006), der die Titelfigur spielen soll.

Der Schauspieler und seine Kunst

Eine der Erbschaften Brechts ist die Weisung, »jede Rolle habe, über den privaten Charakter hinaus, eine genaue Definition ihres sozialen Orts zu enthalten«. Für Peter Hacks bleibt sie eine Maßgabe: Es sei wichtig, »für die Charaktere, die man baut, einen gesellschaftlichen Background zu kennen, zu wissen, nachweislich herzustellen« und es sei dies nichts anderes, »als was Shakespeare getan und was Hegel immer schon verlangt hat«. Eine Rollenanalyse der Figur lässt sich daher nicht ohne die Kenntnis der ganzen Welt des Dramas bewerkstelligen und setzt eine Stückanalyse voraus, eventuell auch Entscheidungen über eine Bearbeitung oder Kürzung des Dramas. Der Arbeit an der Rolle geht voraus die dialektische Analyse, die alle Widersprüchlichkeiten der Figur hervorzieht und sie am Ende spielbar macht. Hilfreich ist sodann, die Rolle auf »eine Formel« zu bringen. (»Die Formel der Rolle lautet: Wallenstein ist das Genie ohne Inhalt«). Dann gilt es, ihre Position in der Personenkonstellation des Dramas zu erörtern, auch zu Personen, die nicht auftreten, die Welt des Dramas aber mitbestimmen – wie der Kaiser im »Wallenstein«. Es muss ausgeforscht werden, was die Person bewegt, aktiv wie passiv, warum sie sagt, was sie sagt, handelt, wie sie handelt. Auf solcher Grundlage kann ein Untertext erstellt werden, der den Ausdruck und die Wendungen des Spiels lenkt, kurzum, Hacks’ Ratschläge sind Beschreibungen des Rollencharakters bis hin zum Psychogramm der Figur. Auf den Punkt gebracht, erläutert er die Schwierigkeit, ein Genie zu spielen, das aber ein Verräter ist, eine Trotzki-Figur. Er vergisst auch nicht die persönliche Ausstrahlung des Akteurs, seinen Charme, seine Komik, seine Souveränität, was immer er als Bühnenerscheinung unentgeltlich mitbringt. Dieses Erscheinen ist nicht künstlich herzustellen, es begleitet ihn – wehe, wenn er zu viel darüber nachdenkt. Er muss sich darauf verlassen, dass er richtig besetzt ist und von der Regie die entsprechende Leitung erfährt. Er darf sich darauf verlassen und nicht versuchen, seine Vorteile nachteilhaft zu verbiegen. Es ist das, was er nicht »erspielen« muss. »Der Darsteller von Wallensteins hassenswertem Tun sei, damit der Widerspruch nicht verlorengehe, liebenswürdig.«
Mit solchen Vorgaben kann ein Schauspieler viel anfangen, gesetzt, er ist ein Eberhard Esche, und Peter Hacks hat sie ihm in einem ausführlichen Brief über Schillers Drama mitgeteilt.
Eberhard Esche war, bevor er sich aus dem Ensemblespiel zurückzog und nur noch solistisch brillierte, ein bedeutender Theater- und Filmschauspieler. Im Deutschen Theater Berlin verkörperte er zentrale Rollen in Inszenierungen unter anderem von Wolfgang Langhoff, Benno Besson und Adolf Dresen; er spielte im »Amphitryon«, in »Senecas Tod« und im »Jahrmarktsfest zu Plundersweilern« von Hacks, mit dem ihn eine intensive, lebenslange Freundschaft verband. Unter Friedo Solters Regie trat Esche 1979 als Wallenstein auf.

Ein Manifest

Nach 1976 hatte für Hacks eine Periode ständiger Friktionen begonnen, die seine Existenz als Schriftsteller, bis hin zur finanziellen Pleite, in Frage stellten und zu Pamphleten und Manifesten herausforderten. Vieles, was er sich abnötigte, ist in einem lakonischen Stil gehalten, mit auf den Punkt gebrachten Aussagen, die allem davon Abweichenden den Eingang versperrten. Schauspieler können »die Voraussetzungen ihrer Kunst nicht selbst herstellen«; nur mit dem Theater sei ihnen gegeben, sich »kunstvoll zu verwirklichen«, ohne Theater gelinge ihnen das nur ausnahmsweise. »Verantwortung und Eigenliebe befehlen ihnen, nach der Leistung der ihnen vorgesetzten Mitarbeiter zu fragen«. Sie fordern, heißt es in dem schon im April 1976 verfassten Manifest »Brot für die Schauspieler«, »Stücke von seelischer Tiefe und gedanklichem Wert« und eine Regie, »die ihnen anmutet, einem Kunstzweck zu dienen, nicht den Zwecken eines Regisseurs«. Werde ihnen das verwehrt, so haben sie die »künstlerische Verpflichtung, Theaterleitungen, welche die Gründe vergessen haben, aus denen man Theater spielt, zu bekämpfen«.
Für Hacks wie Esche hatte der Sozialismus in den Jahren der Regierung Walter Ulbrichts die besten Chancen gehabt, sich zu entfalten. Es erlebte das hierdurch begünstigte Theaterleben, zumindest in den ersten Theatern der Hauptstadt, seine Blütezeit. Es war ein Theater, das seinen politischen mit höchstem künstlerischen Anspruch verband und Lösungen erarbeitete, die den Namen Realismus verdienten, in dem von Hacks formulierten Sinne. Hacks lernte, als er von München aus in die DDR ging, ein Theater kennen, das von Heimkehrern geprägt worden war, darunter einige der großen Schauspieler und Regisseure des vergangenen halben Jahrhunderts. Sie hatten sich aus der Emigration in die damalige Sowjetische Besatzungszone begeben, um politisch und künstlerisch zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft auf deutschem Boden ihren Beitrag zu leisten – Brecht natürlich, Kommunisten wie Wolfgang Langhoff und Wolfgang Heinz; Benno Besson, Adolf Dresen, Friedo Solter und einige andere kamen hinzu. In deren Inszenierungen hatte Esche gespielt. Als es auf den Herbst des DDR-Theaters zuging, quittierte er seinen Dienst, entzog sich aller Regie und allem Ensemblespiel und betrat nur noch in bewunderten Soloprogrammen (Heines »Wintermärchen«, Goethes »Reineke Fuchs«, Balladen) die Bühne des Deutschen Theaters.

Vorläufiges Endspiel

In den achtziger Jahren erlischt im Schauspieler wie im Dichter die Aussicht auf ein Wiedererstarken literarischen Theaterlebens. Hacks hat 1986 noch einen Anlauf gemacht, in einem Brief an Kurt Hager, dem Verantwortlichen für Wissenschaft, Volksbildung und Kultur. Darin forderte er den auf, ihm und ihm verbundenen Künstlern behördlicherseits ein eigenes Theater zur Verfügung zu stellen. Er wendet sich im weiteren gegen die »anarcho-demokratische Wegwerfkunst, welche das Theaterleben in unserem Land beendet« und ihm, Hacks, Berufsverbot beschert habe, und erhebt den Anspruch »das Theater aus seiner gattungsüblichen politischen Beliebigkeit und ästhetischen Gemeinheit heben zu können (…) Die realistische Theaterkunst muss wiederaufgebaut werden, fast aus dem Nichts. Aus dem Nichts, wenn Sie noch zuwarten.« Vergebens. Für sein Verlangen, einen sozialistisch klassischen Realismus hervorzubringen und damit »eine geistige Machtposition, zu der wir eben die Kraft noch haben, nicht fahrlässig preiszugeben«, wird Hacks kein Raum mehr zugestanden. Er sah sich einer Situation ausgesetzt, »in der die DDR-Theaterpolitik mit der westdeutschen identisch wurde«.
Nun überwarf sich Hacks, ohnehin wandelbar in seiner Einstellung zu den ihm verbundenen Künstlern, in jenen Jahren auch mit Regisseuren und Intendanten, die ihn spielen wollten, weil er mit dem Inszenierungsstil und dem Zerpflücken seiner Stücke nicht einverstanden war. Das wäre unter normalen Verhältnissen nichts Absonderliches. Wo Stücke gespielt werden, gibt es Rangeleien, Verwerfungen und Entzweiungen. Nun aber brach, für Hacks nicht akzeptierbar, im theatralischen Gewande der Ost-West-Konflikt auf, und er sah überall die ästhetische Seite der nahenden politischen Katastrophe. Die westdeutsche Machtübernahme schließlich bot ihm, je mehr sie die allgemeine Lebenssituation transformierte, keine Themen mehr, die »lohnen, geschrieben zu werden«. Die gewandelten Umstände stellten die Künstler vor neue Aufgaben.
Kann Theater, kann Regie eine selbständige, von Literatur unabhängige Kunst sein? Nein, sagt Hacks. Die Aufgabe eines Regisseurs bestehe darin, das Stück »szenisch zu verwirklichen«, was heiße, den Text als literarisches Kunstwerk mitsamt seiner gesellschaftlichen und realistischen »Nachricht« begreiflich zu machen und die Fabel begreiflich zu machen als einen Bewegungsvorgang innerhalb eines Bühnenraums. – Aber das war in den Wind geredet.
Wenn das Theater aufhöre »im Ernst Stücke zu spielen«, habe es, als Kunst zumindest, abgedankt. Damit gab Hacks den Kampf um die »Wiedereinführung der Literatur ins Theaterwesen« auf. Seine Äußerungen zum Theatertreiben der Gegenwart wurden immer sarkastischer. Das Theater sei »grundsätzlich literaturfeindlich«. In seinem Streben, Wirkung zu erzielen, fühle es sich von der deutschen Sprache behindert. (»Es war Schmiere und will es bleiben«.) Und es fehlt ein Gegengewicht zur entfesselten Selbstverwirklichung der Theaterleute, von denen alles Drama als knetbare Masse behandelt wird. »Die Kunst eines Dramaturgen besteht darin, etwas aufzuführen, das kein Stück sein darf.« Seit Dramen nur noch ein Baustein im Repertoire der Bühnen waren, interessierte sich der Dramatiker wirklich nicht mehr fürs Theater.
Klassik, so Hacks, setzt Zeiten voraus, die sie ermöglichen. Vieles von dem, was er anstrebte und hinterlassen hat, war nur im abgedichteten Raum DDR denkbar. Wir haben uns seit einiger Zeit verabschieden müssen von jenem aus sonnigeren Zeiten stammenden Unternehmen, »anschauliche Bilder von den besonderen Erscheinungen des zukünftigen Lebens zu entwerfen«. Diese Stücke könnten heute weder Hacks noch andere schreiben. Sie wirkten künstlich, sie hätten kein gesellschaftliches Gegenüber. Manch eines der alten Hacks-Stücke könnte freilich noch aufgeführt werden seiner künstlerischen Qualität wegen, und sei es nur in und als Erinnerung an eine Zeit, in welcher die Aussichten besser oder noch nicht völlig hoffnungslos waren. Seine Modelle aber beantworten nicht die Frage, wie der heutigen Welt mit realistischer Kunst beizukommen sei. Sozialistischer Realismus bedeutet Realismus mit dem Sozialismus. Was bedeutete imperialistischer Realismus?
Schon »demokratischer Realismus« klänge lächerlich und entlarvte, wie unvereinbar unser System mit einer es repräsentierenden und vollendenden Kunst ist. Nur, wenn das Bedürfnis der Gegenwart nach Kunst mit den allgemeinen Bestimmungen einer Art oder Gattung in Übereinstimmung kommt, entstehen Hoch- und Blütezeiten, die über die Gegenwart hinausweisen. Aber unser System ist unfähig geworden, über sich selbst hinauszudenken. Der heutige Naturalismus, der den Eiter der Welt so wirklichkeitsgetreu wie möglich in die Szene quellen lässt, ist nur ein Gespenst realistischen Gestaltens.

Suchbewegungen

Und doch ist der Anspruch weiterhin in der Welt, gesellschaftlich Wesentliches, historisch Entscheidendes, in seinen politischen Dimensionen Begriffenes durch die Totalität des Dramas oder Theaterstücks überschaubar und anschaulich zu machen; die Beweggründe Materialismus (Wahrheit), Humanismus und Kunst sind einmal nicht aus der Welt zu schaffen. Nach Lösungen wird gesucht, über Umwege und oft in Sackgassen hinein mit Machern, die das Theater als »gesellschaftliches Labor für kollektive Forschungszwecke« begreifen, mit Dramaturgen und Regisseuren, die den neuen Berufsweg des »Stückentwicklers« einschlagen, mit Direktoren, die Flüchtlinge, Kranke und Verarmte zur authentischen Selbstdarstellung aufs Podium zerren, und Schauspielern, die sich üben im »Nachäffen des Elends anderer Menschen« und nicht mehr als einen Abklatsch des Elends und der Heuchelei unserer Zeit zu bieten in der Lage sind. Ich denke, der Ruf nach Realismus, der neuerdings immer lauter erklingt, ist auch der Ruf nach einer Dramatik, die »the very age and body of the time« (Shakespeare) mit dem Bild ihres Wesens zu konfrontieren vermag. Es ist zugleich der Ruf nach einer theoretischen und ästhetischen Vergewisserung. Mein frommer Wunsch bleibt, dass sie nicht nur in Seminarräumen und allenfalls im Antichambre des Theaters verbleibt, sondern sich förderlich für die Allgemeinheit entfalte – so wie … ja so, wie die Olive aus der Keule des Herakles wächst.

https://www.jungewelt.de/artikel/343385.peter-hacks-tagung-2018-abbildung-und-ideal.html

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