Sonntag, 11. November 2018

Die einstige Ökopartei hat ihr Image renoviert. Heute ist sie alles: konservativ, liberal und gleichzeitig links

Von Stephan Kaufmann

Es ist noch nicht lange her, da hieß es angesichts fallender Beliebtheitswerte, die Grünen stünden mit dem Rücken zur Wand. Heute jedoch sind sie obenauf. Bei den Wahlen in Bayern verdoppelten sie ihren Stimmenanteil, in Hessen erzielten sie zuletzt ein Rekordergebnis von fast 20 Prozent, in Berlin liegen sie in Umfragen derzeit an erster Stelle.
Die Grünen, so heißt es, sind durch einen politischen Schwenk zur Volkspartei geworden: Heute sind sie Mainstream. Doch will die Partei nicht nur die sogenannte Mitte repräsentieren, sondern größere Teile des politischen Spektrums abdecken: Sie gilt nicht mehr als links, sondern als konservativ, als liberal - und gleichzeitig immer noch als links. Zwar »waren die Grünen nie eine klassisch linke Partei«, erklärt Jürgen Trittin. »Sie waren zuerst Ökologen. Und Ökologen sind immer links.« Nicht links, sondern Ökologen, und daher doch links, so die Dialektik.
Diese breite Abdeckung politischer Bedürfnisse macht die Grünen derzeit nicht unglaubwürdig, sondern mehrheitsfähig. Ihre radikalen Teile hat sie abgeworfen. Heute eröffnet sie keine Gegensätze mehr zwischen Umwelt und Wirtschaft, zwischen Reich und Arm, zwischen Weltpolitik und Pazifismus, zwischen Weltoffenheit und Patriotismus, zwischen Heimat und Globalisierung. Sie verspricht, alle Gegensätze zu versöhnen. Das tun zwar andere Parteien auch. Doch den Grünen werden ihre Versprechen eher geglaubt. Und sie haben einige im Angebot: »Mit Grün wird Deutschland gerechter«, wirbt die Partei für sich, »mit Grün wird Deutschland europäisch, weltoffen und gleichberechtigt.« Anderen EU-Ländern stellt sie eine »Partnerschaft mit Respekt auf Augenhöhe« in Aussicht, sie bietet »verantwortungsvolle Flüchtlingspolitik und gelingende Integration«; an die Stelle ungezügelter Globalisierung soll eine Handelspolitik treten, die nicht nur den deutschen Wohlstand mehrt, sondern auch »fair« ist und »soziale und ökologische Standards« in aller Welt ausbaut. Die Landwirtschaft soll umgebaut werden, sodass das Essen nicht nur gesünder ist, sondern auch bezahlbar. Statt »blinden Wachstumsglaubens und ungebremsten Profitstrebens« plädiert sie für qualitatives Wachstum und grüne Renditen, grüne Steuern, grüne Finanzmärkte. Kurz: Heute wollen die Grünen nicht nur den Gegensatz zwischen Ökonomie und Ökologie tilgen, sie versprechen zudem soziale Gerechtigkeit ohne große Umverteilung. Im globalen Kampf der Supermächte wollen sie Deutschlands Einfluss geltend machen - mit friedlichen Mitteln und ohne Zwang. Sie stehen für eine offene Gesellschaft, die Migranten willkommen heißt und gleichzeitig die Grenzen dichthält.
Das alles wollen sie erreichen ohne grundlegende Veränderungen am System: Im Prinzip kann alles bleiben, wie es ist. Halten die Grünen, was sie versprechen? Ein Check anlässlich des Grünen-Bundesparteitags zur Europawahl, der am Sonntag endet.

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