Sonntag, 11. November 2018

100 Jahre Novemberrevolution (4/10). Die Gehälter wurden weitergezahlt

Alles etwas gedämpft


Von Leo Schwarz
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Überleben wurde noch schwieriger. Warteschlange vor einem Lebensmittelgeschäft 1916 in Frankfurt am Main
Montag: Teil fünf
Die deutsche Klassengesellschaft hat die Revolution von 1918/19 ohne jeden Kratzer überstanden. Am 10. November 1918, ganz am Anfang und vor den großen Entscheidungen also, hatte der Berliner Professor Ernst Troeltsch das schon so eingeschätzt. Nachdem er das hauptstädtische Bürgertum und die höhere Beamtenschaft beim Sonntagsspaziergang im Grunewald beobachtet hatte, schrieb er: »Alles etwas gedämpft wie Leute, deren Schicksal irgendwo weit in der Ferne entschieden wird, aber doch beruhigt und behaglich, dass es so gut abgegangen war. Trambahn und Untergrundbahn gingen wie sonst, das Unterpfand dafür, dass für den unmittelbaren Lebensbedarf alles in Ordnung war. Auf allen Gesichtern stand geschrieben: Die Gehälter werden weiterbezahlt.«
Den Beginn der Revolution, hieß das, hatte die besitzende Klasse durchaus als Macht- und Kontrollverlust empfunden; der Vorgang aber, das ahnte man hier schon am Tag danach, sollte die ökonomischen Grundlagen der bürgerlichen Existenz nicht antasten. Ein paar Wochen später zeigte sich diese Selbstsicherheit bereits im Straßenbild zumindest des Stadtzentrums und der bürgerlichen Wohngegenden: Chronist Harry Graf Kessler fand es Mitte Dezember 1918 bei seiner Rückkehr in die Hauptstadt »auffallend, dass keine rote Fahne mehr zu sehen ist«: »Alles nur Schwarz-Weiß-Rot, Schwarz-Weiß und vereinzelt Schwarz-Rot-Gold. (…) Der Unterschied gegen Mitte November ist groß.«
Die soziale Existenz des grundbesitzenden Adels war durch den binnen weniger Tage erfolgten Wegfall der Fürstenhöfe bzw. der an diese gekoppelten Versorgungsposten aller Art schon eher gefährdet. Der im Adelsmilieu intensiv empfundene Revolutionsschock beruhte jedoch nicht nur auf dem hierdurch eingetretenen erheblichen Prestige-, Positions- und Einkommensverlust: Auf den großen Gütern hatte man nach dem November 1918 einige Monate lang tatsächlich Angst vor einer Bodenreform. Erst im Spätsommer 1919 war die ökonomische und soziale Selbstvergewisserung insbesondere der ostelbischen Gutsbesitzerklasse abgeschlossen: Mit dem Verweis auf dann womöglich drohende »Ernährungsschwierigkeiten« schmetterte das von Otto Braun (SPD) geführte preußische Landwirtschaftsministerium alle Forderungen nach einer umfassenden Bodenreform ab. Das Reichssiedlungsgesetz vom 11. August 1919 ist – genau wie die am gleichen Tag von Reichspräsident Friedrich Ebert unterzeichnete neue Reichsverfassung – ein zentrales, aber ganz unbeachtet gebliebenes Zeugnis für das vollständige Scheitern der Revolution.
Das Gesetz verpflichtete die Landgemeinden und selbständigen Gutsbezirke lediglich dazu, bis zu fünf Prozent ihrer landwirtschaftlichen Fläche durch Ankauf, Enteignung oder Zwangspachtung zur Siedlung oder Bewirtschaftung für Landlose bzw. Kleinstbetriebe zur Verfügung zu stellen; die »Abtretung oder Aufteilung ganzer Wirtschaftseinheiten« wurde ausdrücklich ausgeschlossen. Bis Ende 1921 wurden auf der Grundlage dieses Gesetzes ganze 6.365 »Neusiedlerstellen« geschaffen – eine Zahl, die deutlich zeigt, dass die Eigentumsordnung auf dem Land die Revolution gänzlich unangetastet überlebt hatte. Hier liegt die ökonomische Wurzel dafür, dass, wie der Historiker Stephan Malinowski geschrieben hat, beim Adel »Panik und Verzweiflung bald einer gewissen Erleichterung und die kurzfristigen den langfristigen Planungen zur Konterrevolution« wichen.
Die Arbeiterklasse, die die Revolution gemacht hatte, war davor, mittendrin und danach am schlechtesten dran. Zu ihr gehörten, legt man die Zahlen der neueren Forschung für die unmittelbare Vorkriegszeit zugrunde, 74 Prozent der Bevölkerung (alle Arbeiterkategorien – Landwirtschaft, Verkehr, Industrie –, einschließlich Familienangehöriger). Kurz hingewiesen sei auf die Verluste an Menschenleben infolge des Krieges. Dieser für die politische Mobilisierung vieler Arbeiter zentrale Punkt wird häufig übersehen: Die affirmativen Denkmäler und Mythen der besitzenden Klassen prägen die Erinnerung an den Krieg. 1,9 Millionen deutsche Soldaten starben zwischen 1914 und 1918 entweder direkt auf dem Schlachtfeld, an ihren Verwundungen oder an Krankheiten, rund 100.000 weitere blieben dauerhaft vermisst. Nur 4.800 von denen, die nicht zurückkehrten, kamen aus Adelsfamilien. Vieles deutet darauf hin, dass der Anteil der arbeitenden Landbevölkerung (selbständige Bauern und Landarbeiter) an den Verlusten überproportional hoch war. Umgekehrt war in den Industriegebieten die Zahl der Menschen, die an den Folgen von Hunger und Unterernährung verstarben – das waren nach der offiziellen Statistik allein 1918 über 290.000 –, am höchsten. Unzweifelhaft ist, dass der Krieg jene Klassen am härtesten traf, die an seiner Auslösung keinerlei Anteil hatten und ihm ganz überwiegend entweder verhalten oder ablehnend begegnet waren.
Die politische oder zumindest gewerkschaftliche Mobilisierung der Arbeiterklasse in der Revolution – 1919 drängten Massen bislang unorganisierter Arbeiter in die sozialdemokratischen »freien« Gewerkschaften; am Jahresende hatten sie 7,4 Millionen Mitglieder (1914: 2,5 Millionen) – verhinderte nicht, dass sich die Verelendungsprozesse der Kriegsjahre in der Revolutionsperiode fortsetzten und zum Teil noch beschleunigten. 1918 waren die Lebenshaltungskosten etwa viermal so hoch wie im Jahr 1900, der durchschnittliche Bruttoreallohn jedoch war gesunken (Indexwert für 1918 = 72, wenn 1900 = 100). 1913/14 verdiente ein Maurer in Berlin 41,82 Mark in der Woche, das Existenzminimum für eine vierköpfige Familie lag bei 28,80 Mark. Im Juni 1920 lag der nominale Wochenlohn eines Maurers bei 299 Mark, das Existenzminimum für eine Familie jedoch bei 304 Mark. Nun war »Demokratie«, das einfache Überleben aber noch schwieriger als vorher.

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