Donnerstag, 18. Oktober 2018

Nach 61 Jahren bekennt sich der französische Staat zum Mord an dem kommunistischen Aktivisten Maurice Audin. Präsident Emmanuel Macron will die koloniale Vergangenheit mit symbolischen Bekenntnissen hinter sich lassen

Einsicht aus Kalkül


Von Sabine Kebir
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Der junge Mathematiker Maurice Audin (14.2.1932–wahrscheinlich 21.6.1957) in Algier vor seiner Verhaftung
Sabine Kebir schrieb an dieser Stelle zuletzt am 14. Juli 2018 über den Leipziger Antifaschisten Karl Hauke.
Ein zentraler Platz inmitten von Algier unweit der Zentralfakultät heißt Place Maurice Audin. Auch die dortige Bushaltestelle ist so benannt. Islamisten haben sich oft an dem französischen Namen gestört, weil er sie an die Kolonialzeit erinnert. Schließlich heißt die von dem Platz abgehende Straße auch nicht mehr Rue Michelet, sondern ist nach Mourad Didouche benannt, einem Veteranen des algerischen Befreiungskampfes. Aber die Stadtverwaltung hat am Namen des Place Audin nie etwas geändert.
Seit Mitte September beschäftigen sich die französischen und algerischen Medien wieder mit der Geschichte Maurice Audins, des Namensgebers des Platzes. Denn Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat anerkannt, dass der zur privilegierten französischen Bevölkerung Algeriens Zählende im Juni 1957 von den berüchtigten Paras, den Fallschirmjägern, bestialisch gefoltert und getötet worden war und der französische Staat dafür die Verantwortung trägt. Der fünfundzwanzig Jahre junge Kommunist unterstützte die Unabhängigkeitsbestrebungen Algeriens und arbeitete mit dem Front de Libération Nationale (FLN) zusammen. Präsident Charles de Gaulle und alle seine Nachfolger bis hin zu Nicolas Sarkozy hatten es nicht für opportun gehalten, sich derart zu äußern. Er galt als verschollen. Seine Leiche war nie gefunden worden.

Verschleppt und gefoltert

Audin war ein begabter Mathematiker und arbeitete als Assistent an der Universität Algier, wo er eine Doktorarbeit über »Lineare Gleichungen in einem vektoriellen Raum« fast abgeschlossen hatte. Er war Mitglied der in Algerien verbotenen Kommunistischen Partei (Parti Communiste Algérien, PCA) und stand in engem Kontakt mit der Organisation muslimischer Studenten. Er hatte mehrmals Kader des PCA beherbergt und ihnen auch zur Flucht ins Ausland verholfen. Der Arzt Georges Hadjadj, der einen verwundeten Kommunisten in Audins Wohnung behandelt hatte, verriet unter Folter die Adresse. Am 11. Juni 1957 wurde Audin verhaftet. In seiner Wohnung verblieb – außer der Ehefrau und den drei Kindern, die Hausarrest erhielten – ein Spitzel. Dieser öffnete am Tag darauf dem ehemaligen Chefredakteur der zu Beginn des Unabhängigkeitskrieges verbotenen Tageszeitung Alger républicain, Henri Alleg, die Tür. Alleg, der wegen eines Haftbefehls in der Illegalität lebte, wurde nun ebenfalls in ein Folterzentrum gebracht. Als er sich trotz des brutalen Verhörs – man folterte ihn mit Stromschlägen – weigerte, die Namen derjenigen preiszugeben, bei denen er untergetaucht war, ließ der die »Untersuchung« leitende Leutnant André Charbonnier Audin holen und befahl diesem: »Kommen Sie, Audin, sagen Sie ihm, was ihn erwartet. Vermeiden Sie die Schrecken des gestrigen Abends!« Ein Para hob Allegs Kopf. »Über mir sah ich nun das bleiche, verstörte Gesicht meines Freundes Audin, der mich anschaute, während ich auf den Knien schwankte. ›Los, sprechen Sie mit ihm!‹ befahl Charbonnier. ›Es ist hart, Henri‹, sagte Audin. Und man führte ihn wieder ab.«1
Nach einem Monat weiterer Stromfolter, Waterboarding und der Verabreichung eines Wahrheitsserums forderte Leutnant Charbonnier Alleg auf: »›Machen Sie sich fertig, wir gehen nicht weit.‹ Ich zog meine schmutzige zerknitterte Jacke an. Im Gang hörte ich ihn sagen: ›Macht auch Audin und Hadjadj fertig, aber haltet sie getrennt.‹« Alleg war überzeugt, dass er selbst und seine Genossen zur Exekution geführt würden. Er dachte an seine Frau und seine Kinder, habe sich aber auch »erhoben« gefühlt, schrieb er später, weil es ihm gelungen war, nicht auszusagen. »Im Hof fuhr ein Auto an und entfernte sich. Einen Augenblick danach kam aus der Richtung der Villa des Oliviers die lange Salve einer Maschinengewehrpistole. Ich dachte: Audin.«2
Alleg wartete noch Stunden auf seine Hinrichtung. Öffentliche Proteste hatten aber dazu geführt, dass er einem Zivilgericht übergeben wurde. Auch Georges Hadjadj, der zeitweise mit Audin eine Zelle geteilt hatte, kam wieder frei. Er war für sein ganzes Leben unglücklich darüber, dass er den Namen des Freundes preisgegeben hatte, nachdem die Paras gedroht hatten, auch seine Frau zu foltern. Audin dagegen sei bei guter Moral und zuversichtlich gewesen freizukommen.

Welle der Solidarität

Sobald es Josette Audin, Hilfslehrerin an einem Gymnasium, möglich war, begann sie, nach ihrem Mann zu forschen. Zunächst gab man ihr beruhigende Auskünfte. Er befinde sich zwar in Haft, sei aber gesund. Am 1. Juli erklärte man ihr, Audin sei bei einem Transport vom Lastwagen gesprungen und geflohen. Hinter einer solchen, häufig erteilten Auskunft war eine verschleierte Tötung zu vermuten – etwa 3.000 Algerier kehrten während der »Schlacht um Algier«, als die französische Armee zwischen Januar und Oktober 1957 die Unterstützer des FLN systematisch verhaftete, nicht aus den Folterzentren zurück. Deshalb machte Josette Audin am 4. Juli eine Anzeige wegen Mordes gegen Unbekannt, wobei sie von Anwälten unterstützt wurde, die der Kommunistischen Partei nahestanden. Am selben Tag schrieb Humanité über das Verschwinden ihres Mitarbeiters Henri Alleg und des Mathematikers Maurice Audin. Und wohl nur, weil es sich nicht um Algerier handelte, die verschollen waren, sondern um Franzosen, berichtete auch Le Monde schon am 7. Juli vom Verschwinden Audins. Von nun an setzte eine verstärkte Mobilisierung ein. Immer mehr Juristen und Persönlichkeiten des intellektuellen Lebens empörten und engagierten sich. Es entstand ein »Komitee Audin«. Sein Doktorvater René de Possel beraumte am 2. Dezember vor zahlreichem Publikum in Algier die Verteidigung der Doktorarbeit seines Schülers in absentia an. Sie wurde mit »très honorable« bewertet. Wie stark die französische Öffentlichkeit an dem Fall interessiert war, zeigte sich auch an der Gründung eines Mathematikervereins Maurice Audin, der zwischen 1957 und 1963 jedes Jahr einen Doppelpreis an einen algerischen und einen französischen Mathematiker verlieh. Diese Preisvergabe wurde im Jahr 2000 wiederaufgenommen und besteht bis heute.
Henri Allegs Bericht »Die Folter« – ein Vorabdruck in der Humanité war beschlagnahmt worden – erschien im Februar 1958 bei dem Verlag Éditions de Minuit. Im März erfolgte das Verbot der Broschüre mit der Begründung, dass es sich um einen Versuch handele, die Moral der Armee in Frage zu stellen und die Wehrkraft zu zersetzen. Ein in der Schweiz erschienener Nachdruck fand jedoch auch in Frankreich außerordentlich große Verbreitung, so dass der Öffentlichkeit ein erstes umfangreiches Zeugnis der Methoden vorlag, mit denen Frankreich seinen Kolonialkrieg in Algerien führte.
Der Historiker Pierre Vidal-Naquet, der ein zweites »Komitee Audin« gegründet hatte, veröffentlichte im Mai 1958 eine vielbeachtete Untersuchung, in der die Unhaltbarkeit der Behauptung dargelegt wurde, Audin sei geflohen. Er erklärte Leutnant Charbonnier zu Audins Mörder.
Audins Tod wurde 1963, nach der 1962 erlangten Unabhängigkeit Algeriens, von einem dortigen Gericht bestätigt und auf das Datum des 21. Juli 1957 festgelegt. Die von Josette Audin eingeleiteten juristischen Verfahren schleppten sich in Frankreich wegen mangelnder Beweise dahin. Sie wurden aussichtslos, als nach der Unabhängigkeit Algeriens alle, die dort verantwortlich für »Handlungen zur Aufrechterhaltung der Ordnung« gewesen waren, von einem Amnestiegesetz profitierten. Auch das Berufungsverfahren wurde 1966 eingestellt.
Nach dem Ableben des zum Colonel beförderten André Charbonnier widersprach dessen Sohn der These Vidal-Naquets, sein Vater habe den Tod Audins zu verantworten. Er habe den Fall vielmehr für so bedeutend gehalten, dass er Audin an eine übergeordnete Einheit überstellt habe, nämlich zur 10. Fallschirmjägerdivision. Dort sei er wahrscheinlich unter der Folter gestorben. Allerdings habe Charbonnier – ganz dem Korpsgeist der Armee verpflichtet – darüber geschwiegen, um seine Vorgesetzten zu schützen.

Ein Mörder erzählt

2001 erschien ein Buch des Generals Paul Aussaresses, der in der »Schlacht um Algier« die Ausführung der Anordnungen des Polizeigenerals Jacques Massu koordinierte. Obwohl er behauptete, mit dem Mord an Audin nichts zu tun gehabt zu haben, trug er zweifellos die Verantwortung für das, was in den Folterzentren geschah. Josette Audin erhob daraufhin erneut Anklage gegen Unbekannt wegen der Verschleppung ihres Mannes und gegen ihn begangene Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das Verfahren wurde 2002 eingestellt. Aber 2013, kurz vor seinem Tod, gab Aussaresses einem Journalisten gegenüber zu, dass Audin mit einem Messer erstochen worden war – und zwar um den Verdacht auf den FLN zu lenken. Warum man allerdings davon Abstand nahm, Audins Tod auf diese Weise öffentlich zu machen, sagte Aussaresses nicht. Zumindest erklärt sich so, weshalb die Leiche verschwand. Aussaresses war Spezialist für die gezielte Verschleierung von Todesursachen. Er gab auch zu, die Ermordung des damals wichtigsten FLN-Kaders, Larbi Ben M’Hidi, angeordnet zu haben, dessen Erhängung als Selbstmord hingestellt wurde. Dasselbe wurde vom Tod des ebenfalls für den FLN arbeitenden Rechtsanwalts Ali Boumendjel behauptet, der aus dem sechsten Stock eines Gebäudes gestürzt worden war. Aussaresses rechtfertigte solche extralegalen Hinrichtungen 2013 mit einem höchst emotionalen Statement: Wer leben wolle, müsse töten.3
Dem Korpsgeist blieb nicht nur die Armee selbst verpflichtet, sondern auch der französische Staat, der nominell zwar ihr Vorgesetzter sein sollte, faktisch aber auch von ihr bedroht und gegängelt werden konnte. Man erinnere sich – ein knappes Jahr nach Maurice Audins Tod putschte im Mai 1958 die Armee in Algier. Die Machtübernahme durch eine Militärregierung konnte Charles de Gaulle als neuer Ministerpräsident nur mit großer Schläue und Bedachtsamkeit verhindern. Obwohl er überzeugt war, dass die Kolonie Algerien nicht gehalten werden konnte, musste er versuchen, seiner Armee eine Niederlage wie in Vietnam zu ersparen, und ihr erlauben, den Krieg noch eine Weile fortzuführen. Gleichzeitig wurden Geheimverhandlungen mit der FLN-Führung angebahnt. Mit der Gründung der Organisation de l’armée sécrète – bekannt als OAS – widersetzte sich die französische Armee in Algerien diesen Verhandlungen und dem absehbaren Ende des Krieges durch eine nochmalige Ausweitung des Terrors gegenüber der muslimischen Bevölkerung und jedem Europäer, der es wagte, für die Unabhängigkeit einzutreten. Erneut wuchs die Gefahr eines Putsches.
Algerische Militärs geben zu, dass die Armée de Libération Nationale, der bewaffnete Arm der FLN, militärisch besiegt war. Der Unabhängigkeitskrieg wurde letztlich in einem komplizierten politischen Prozess gewonnen, bei dem auch internationale Konstellationen eine Rolle spielten.
Aus dem komplexen Verhältnis zwischen Kolonialarmee und Staat erklärt sich, weshalb die Todesurteile gegen Putschgeneräle – die auch Foltergeneräle waren – nicht vollstreckt wurden und weshalb sich einige von ihnen – übrigens auf Entscheidung von de Gaulle selbst – nach Südamerika absetzen konnten, um dort das eigene »Wissen« an die regionalen Militärdiktaturen weiterzugeben.4 So erklären sich auch die Amnestiedekrete für die Folterer und das nachhaltige Schweigen des französischen Staates zu seiner Mitverantwortung. Deren Eingeständnis wurde allerdings von der Öffentlichkeit unablässig eingefordert, nicht zuletzt von der unermüdlich kämpfenden Josette Audin und ihren Kindern, die stets hervorhoben, dass es nicht nur um ihren Ehemann und Vater gehe, sondern um alle Folteropfer des Algerien-Krieges. 2009 lehnte Michèle Audin, die selbst eine renommierte Mathematikerin ist, den Orden der Ehrenlegion ab, weil Präsident Nicolas Sarkozy nicht auf die Forderung ihrer Mutter reagiert hatte, endlich zum Fall Audin Stellung zu nehmen.
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1957 ging die französische Armee mit aller Härte gegen den antikolonialen Widerstand vor. Mit einer systematischem Folterkampagne, der auch Audin zum Opfer fiel, wollte sie den algerischen Front de Libération Nationale zerschlagen

Belastung für Frankreich

Sarkozys Nachfolger François Hollande hatte offenbar begriffen, dass die unaufgearbeiteten Verbrechen der Kolonialzeit eine dauerhafte Belastung für Frankreichs Afrika-Politik darstellten. Als er 2012 Algerien besuchte, legte er vor dem Gedenkstein für Maurice Audin einen Kranz nieder und erteilte dem Verteidigungsministerium den Auftrag, die Umstände seines Todes zu klären. Anlässlich der Verleihung der im Namen Audins ausgegebenen Mathematikerpreise erklärte er 2014, dass Audin nach Dokumentenlage nicht geflohen, sondern in der Haft umgekommen sei, wofür der französische Staat die Verantwortung trage.
In den fünfeinhalb Jahrzehnten der Unabhängigkeit Algeriens wies das Verhältnis zwischen der ehemaligen Kolonie und Frankreich spannungsreichere und spannungsärmere Perioden auf. Einer endgültigen Normalisierung stand stets im Wege, dass Frankreich – aus Rücksichtnahme auf seine Armee – keine Verantwortung für Verbrechen im Kolonialkrieg übernehmen wollte und dieser bis 1999 auch offiziell nicht als Krieg galt, sondern als innerfranzösischer Konflikt. Dennoch entwickelte sich das zwischenstaatliche Verhältnis mehr und mehr hin zu einer pragmatischen Partnerschaft, die nicht nur auf zahlreichen familiären Beziehungen gründet, sondern auch auf der Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus. Das führte sogar dazu, dass Algerien der französischen Luftwaffe im Januar 2013 zeitlich begrenzte Überflugrechte gewährte, als islamistische Gruppen aus Nordmali versuchten, auch den Süden des westafrikanischen Landes einzunehmen. Obwohl dies eigentlich nahelegt, dass es sich dabei um neokoloniale Bestrebungen handelt, ist dennoch unbestreitbar, dass Frankreichs andauernde militärische Präsenz in Mali und anderen Ländern der Region auch dem Ziel dient, sich langfristig den Zugriff auf wertvolle Rohstoffe zu sichern.
Im Unterschied zu seinen Vorgängern versucht Präsident Emmanuel Macron die Rolle seines Landes bei der angeblichen Lösung innerafrikanischer Konflikten mittels einer Politik zu bemänteln, die als Schlussstrich unter den Kolonialismus alter Prägung verstanden werden soll. Schon während seines Wahlkampfs reiste Macron nach Algerien, und bereits im Vorfeld des Besuchs versprach er, im Falle, dass er gewählt werde, sich stärker als seine Vorgänger dafür einzusetzen, die historischen Realitäten anzuerkennen: »Die Kolonisation ist Teil der französischen Geschichte. Sie ist ein Verbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, eine wahrhafte Barbarei. Sie ist Teil einer Vergangenheit, mit der wir offen umgehen müssen, indem wir uns bei denen entschuldigen, gegen die wir uns so verhalten haben.«5
Obwohl laut Umfragen 51 Prozent der Franzosen Macrons Ansicht teilten, dass in Algerien Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden, und 52 Prozent befürworten, sich offiziell zu entschuldigen, sah sich Macron im Wahlkampf heftigen Protesten von Seiten der Veteranenverbände ausgesetzt, die sein Konkurrent François Fillon auch prompt auszunutzen wusste. Auf einer Kundgebung in Toulon vor Veteranen versicherte Macron, dass er sie mit seiner Erklärung nicht verletzen wollte und auch ihre aus dem Konflikt stammenden Traumatisierungen respektiere. Aber er hob noch einmal hervor, dass »ohne die Anerkennung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht an der Zukunft gebaut werden« könne. Er schloss seine Rede mit der berühmten doppelzüngigen Formulierung de Gaulles: »Je vous ai compris! – Ich habe euch verstanden«,6 die dieser am 4. Juni 1958 in Algier vor Tausenden von Algerienfranzosen benutzt hatte, um diese glauben zu machen, dass er in der Lage sei, den Kolonialstatus zu erhalten.
Schon in seinem ersten Amtsjahr wies Macron die kulturellen Institutionen, insbesondere die ethnographischen Museen, an, Kunstwerke, die eine identitätsstiftende Rolle für ehemalige Kolonialvölker haben, für eine Restitution an die jeweiligen Länder vorzubereiten. Am 6. Dezember 2017 meldete die algerische Zeitung El Watan, dass Macron angekündigt habe, Schädel algerischer Widerstandskämpfer, die im Pariser Musée de l’Homme lagern, nach Algerien zurückführen zu lassen. So unglaublich es klingt: Mehr als ein Jahrzehnt nach dem Ende des deutschen Faschismus wurde in Frankreich noch »Schädelforschung« zu rassistischen Zwecken betrieben – worauf seinerzeit schon Frantz Fanon hingewiesen hatte.

Symbolischer Schlusstrich

In die von Macron verfolgte Strategie eines symbolischen Schlussstrichs unter eine unrühmliche historische Etappe fügt sich auch sein etwas kitschig inszenierter Besuch bei der 87jährigen Josette Audin am 13. September. Er wiederholte hier eigentlich nur, was Hollande bereits gesagt hatte: Der französische Staat verantworte das Verschwinden von Maurice Audin und entschuldige sich dafür. Neu ist, dass er in weiteren Statements anerkannte: Die Folter in Algerien war ein durch Ausnahmegesetze legalisiertes politisches Instrument. Und er versprach, die Archive darüber zugänglich zu machen.
Es verwundert nicht, dass Jean-Marie Le Pen, der ehemalige Chef des Front National, der selbst in Algerien gefoltert hatte, den »Flirt des Präsidenten mit den Kommunisten« nicht gutheißen mochte. Und seine Tochter Marine, die die in Rassemblement National umbenannte Partei heute führt, kritisierte, dass Macron mit dem Hervorholen einer so alten Geschichte die französische Nation spalten wolle. Gerade die 61jährige Geschichte der Aufarbeitung des Falles Audin zeigt aber, dass es sich zwar um alte, aber offenbar noch virulente Spaltungen handelt.
Anmerkungen:
1 Henri Alleg: Die Folter. La Question. Mit Geleitworten von Jean-Paul Sartre und Eugen Kogon, Wien/München/Basel 1958, S. 33
2 Ebd., S. 60
3 Nachzuhören: youtube.com/watch?v=K3rHRdJqEg4
4 Vgl. Marie-Monique Robin: Escadrons de la mort. École Française, Éditions La Découverte, Paris 2004, S. 175. General Aussaresses ging nicht nach Südamerika, sondern lehrte in Fort Bragg (USA) die Methoden des schmutzigen Krieges, wobei auch der Film »Die Schlacht von Algier« von Gillo Pontecorvo zum Einsatz kam. Ebd, S. 233 ff.
El Watan, 12.2.2017
El Watan, 22.2.2017

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