Donnerstag, 18. Oktober 2018

Die deutsche Bombe


BERLIN(Eigener Bericht) - Eine Vorfeldorganisation der Berliner Regierungspolitik treibt die öffentliche Debatte über eine etwaige nukleare Aufrüstung der EU oder der Bundesrepublik voran. Am heutigen Mittwoch führt die Gesellschaft für Sicherheitspolitik (GSP, vormals Gesellschaft für Wehrkunde) eine hochkarätig besetzte Tagung zum Thema "Die Zukunft von Nuklearwaffen in einer Welt in Unordnung" durch. Zu den Referenten, die unter dem Motto "Renaissance der Nuklearstrategien?" über eine "europäische Perspektive" von Atomwaffen diskutieren, zählen nicht nur entschiedene Befürworter eigener EU-Nuklearstreitkräfte, sondern auch ein emeritierter Politikprofessor, der sich zuletzt für die Beschaffung einer "deutschen Bombe" ausgesprochen hat. Während dazu der Austritt aus dem Atomwaffensperrvertrag unumgänglich wäre, wäre eine Ko-Finanzierung etwa der französischen Nuklearstreitmacht im Gegenzug gegen eine Mitbestimmung über deren Einsatz auch unter Beibehaltung des Abkommens möglich, urteilen Experten aus den Wissenschaftlichen Diensten des Deutschen Bundestags.

Atom-Supermacht Europa

Die neue Debatte über den Aufbau von EU-Nuklearstreitkräften oder eine nukleare Bewaffung Deutschlands hat unmittelbar nach dem Wahlsieg von Donald Trump im November 2016 an Fahrt gewonnen. Zur Begründung hieß es von Anfang an, die unberechenbare Außenpolitik des neuen US-Präsidenten, seine uneindeutige Position zur NATO-Beistandsgarantie und insbesondere seine kritische Haltung gegenüber Deutschland und der EU machten es erforderlich, eine eigenständige nukleare Abschreckung in Europa zu installieren. "Berlin wird es in Betracht ziehen müssen, einen europäischen Nuklearschild zu entwickeln, der auf französischen und britischen Fähigkeiten basiert", erklärte etwa der Direktor des Berliner Global Public Policy Institute, Thorsten Benner, Mitte November 2016 in einem Beitrag für Foreign Affairs, die führende Außenpolitik-Zeitschrift der Vereinigten Staaten.[1] Zur selben Zeit forderte der damalige verteidigungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Roderich Kiesewetter, Berlin solle in Paris und in London für den Aufbau eines EU-"Nuklearschirms" werben; das kostspielige Vorhaben könne aus dem EU-Militäretat bezahlt werden.[2] Anfang 2017 erreichte die neue Nukleardebatte einen vorläufigen Höhepunkt, als eine führende deutsche Tageszeitung triumphierte, selbst aus Polen seien keinerlei Widerstände gegen das Vorhaben zu erwarten: Die graue Eminenz der polnischen Regierung, Jarosław Kaczyński, habe bekräftigt, er "begrüße" eine zukünftige "Atom-Supermacht Europa" (german-foreign-policy.com berichtete [3]).

Deutschlands europäische Option

Der Aufbau von EU-Nuklearstreitkräften hätte aus Sicht seiner Befürworter unter anderem den Vorteil, dass er ohne einen Austritt Berlins aus dem Atomwaffensperrvertrag möglich wäre. Zwar hat die Bundesrepublik den Vertrag unterzeichnet und am 2. Mai 1975 ratifiziert; doch hat sie dies unter der Maßgabe getan, dass er zwar den Besitz von Atomwaffen, nicht aber die Mitverfügung ("nukleare Teilhabe"), auch nicht eine Mitverfügung im Rahmen einer "europäischen Option", untersagt.[4] Im Mai vergangenen Jahres haben die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages bestätigt, dass "die derzeitigen völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands" sich "auf das Verbot eines Erwerbs von eigenen Atomwaffen ('deutsche Bombe')" beschränkten.[5] Eine "'nukleare Teilhabe', wie sie bereits im Hinblick auf die in Deutschland stationierten US-Atomwaffen praktiziert wird", verstoße "ebenso wenig" gegen den Atomwaffensperrvertrag wie beispielsweise "die Ko-Finanzierung eines ausländischen (z.B. französischen oder britischen) Nuklearwaffenpotentials". Eine solche Ko-Finanzierung könne ohne weiteres in einem üblichen völkerrechtlichen Abkommen geregelt werden, in dem gleichzeitig auch "die 'Gegenleistung' der Finanzierung" festgehalten sei.

"Ohne Vorbehalte und Scheuklappen"

Gilt der Aufbau einer EU-Nuklearstreitmacht nach wie vor als Hauptvariante der Berliner Planungen, so werden inzwischen in wachsendem Maß Einwände laut. Das Hauptargument lautet, weder Frankreich noch Großbritannien hätten Anlass, ihre nukleare Macht mit Deutschland zu teilen. Im Falle Großbritanniens könnte zudem ein im Streit vollzogener EU-Austritt jede diesbezügliche Kooperation auf absehbare Zeit verhindern. "Europa wartet nun schon seit 70 Jahren vergeblich auf eine gemeinsame Verteidigungspolitik", konstatierte im Juli der emeritierte Bonner Politikprofessor Christian Hacke: "Sie wird auch in Zukunft wegen der unterschiedlichen nationalen Interessen illusorisch bleiben." Deshalb müsse man jetzt die Frage "öffentlich ohne Vorbehalte und Scheuklappen diskutieren": "Wie halten wir es mit einer potenziellen Atommacht Deutschland?"[6] Hacke plädiert mit Blick auf die EU explizit für "eine neue Balance zwischen Gemeinschaftsidee und nationalen Überlegungen": Die "Landesverteidigung" der Bundesrepublik "auf der Grundlage eigener nuklearer Abschreckungskapazitäten" müsse "angesichts neuer transatlantischer Ungewissheiten und potenzieller Konfrontationen Priorität bekommen".[7] Man müsse die Frage stellen, "unter welchen Bedingungen und zu welchen Kosten" die "Zentralmacht Europas Atommacht" werden könne.[8]

Eng angebunden

Am heutigen Mittwoch kann Hacke seine Thesen auf dem dritten Berliner Sicherheitsdialog der Gesellschaft für Sicherheitspolitik (GSP) zur Diskussion stellen - unter anderem neben dem CDU-Politiker Roderich Kiesewetter, der zuletzt EU-Nuklearstreitkräfte favorisierte. Die GSP, die die Tagung durchführt, ist eine unmittelbare Vorfeldorganisation deutscher Regierungspolitik. Geleitet von der ehemaligen Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses des Bundestags, Ulrike Merten (SPD), ist sie über Präsidium und Kuratorium eng an die offizielle Berliner Militärpolitik und die Bundeswehr angebunden; GSP-Vizepräsidenten sind der Parlamentarische Staatssekretär bei der Bundesministerin der Verteidigung Markus Grübel (CDU) sowie mit Reinhard Brandl ein Mitglied des Verteidigungsausschusses des Bundestags, während dem GSP-Kuratorium unter anderem der Wehrbeauftragte des Bundestags, Hans-Peter Bartels (SPD), der Vorsitzende des Deutschen BundeswehrVerbandes, Oberstleutnant André Wüstner, und der Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS), Karl-Heinz Kamp, angehören. Die heutige Tagung wird von der GSP gemeinsam mit der BAKS in den Berliner Räumlichkeiten des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung durchgeführt. Die Auftaktrede hält der Staatsminister im Auswärtigen Amt Niels Annen (SPD).

Ein neues nukleares Wettrüsten

Der Übergang Deutschlands zur Atommacht, wie ihn Hacke zuletzt Ende Juli gefordert hat und den er beim heutigen Berliner Sicherheitsdialog möglicherweise erneut öffentlich zur Debatte stellen wird, hätte gravierende Folgen. Er erforderte nicht nur den Austritt Berlins aus dem Atomwaffensperrvertrag; die Bundesrepublik wäre damit nach Nordkorea, das im Januar 2003 aus der Vereinbarung ausschied - es war damals gerade von den Vereinigten Staaten gemeinsam mit dem Irak und Iran einer "Achse des Bösen" zugeordnet worden -, der zweite Staat, der den Austritt vollzöge. Die Beschaffung einer "deutschen Bombe" wäre zudem mit einem Bruch des Zwei-plus-Vier-Vertrags verbunden, in dem es explizit heißt, die Bundesrepublik "bekräftige" ihren früheren "Verzicht auf Herstellung und Besitz von und auf Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen". Nicht zuletzt ist der Schritt geeignet, eine globale atomare Aufrüstungsspirale in Gang zu setzen: Nimmt sich mit Deutschland die Zentralmacht der EU das Recht heraus, aus dem Atomwaffensperrvertrag auszusteigen, so könnten es andere Staaten - zumal solche, die von den westlichen Mächten bedroht werden - der Bundesrepublik gleichtun und den Vertrag ebenfalls aufkündigen. Das wäre der Beginn eines neuen nuklearen Wettrüstens in bisher beispielloser Breite - und mit unabsehbaren Folgen.

[2] S. dazu Der Schock als Chance.
[3] S. dazu Griff nach der Bombe.
[4] Matthias Küntzel: Bonn und die Bombe. Deutsche Atomwaffenpolitik von Adenauer bis Brandt. Frankfurt am Main 1992.
[5] Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags: Völkerrechtliche Verpflichtungen Deutschlands beim Umgang mit Kernwaffen. Berlin, 23.05.2017. WD 2 - 3000 - 013/17.
[6] Christian Hacke: Falsches Hoffen auf die Zeit nach Trump. cicero.de 20.07.2018.
[7] Christian Hacke: Eine Nuklearmacht Deutschland stärkt die Sicherheit des Westens. welt.de 29.07.2018.
[8] Christian Hacke: Falsches Hoffen auf die Zeit nach Trump. cicero.de 20.07.2018.

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