Donnerstag, 18. Oktober 2018

Auf dem Berliner Bahnhof Grunewald wird heute der während des Faschismus deportierten Juden gedacht. Die Zeitzeugin Vera Friedländer erinnert sich

Mahnung und Warnung


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Von Gleis 17 in den Tod: Gedenkstätte am Bahnhof Berlin-Grunewald
Am heutigen Donnerstag findet eine Gedenkstunde am »Gleis 17« auf dem Berliner Bahnhof Grunewald statt. Von dort erfolgten die Deportationen Berliner Juden in die faschistischen Vernichtungslager. Die 90jährige Schriftstellerin Vera Friedländer spricht dort als Zeitzeugin, jWveröffentlicht an dieser Stelle ihre Rede.
Ich habe erlebt, was geschah. Auf dieser Brücke stand ich, als mein Vater in einen Zug steigen musste, der ihn in ein Arbeitslager brachte. Er hatte sich geweigert, sich von seiner jüdischen Frau, meiner Mutter, scheiden zu lassen.
Er war kein Jude und musste wählen: Scheidung oder Lager. Bei einer Scheidung wären meine Mutter und ich sofort geholt und deportiert worden. Das war die Praxis. Mein Vater wählte das Lager und rettete unser Leben. Die Ehe meiner Eltern war eine »Mischehe«. Und ich war für die Nazis ein »Mischling 1. Grades«. Es sollen 3.000 Männer gewesen sein, die sich in das Lager der »Organisation Todt« (OT) bringen ließen, um ihre Familien zu schützen und um ihnen einen ungewissen Schutz zu geben. Nur ganz wenige Männer wählten die Scheidung und gaben ihre Frauen – und, wenn sie Kinder hatten, auch ihre Kinder – in die Hände der SS.
Ob es das Gleis 17 war, von dem mein Vater abfuhr, weiß ich nicht. Bereits seit drei Jahren fuhren von hier Züge mit Güterwaggons ab. Es waren Menschentransporte in Vernichtungslager. Mit ihnen wurde die große Berliner jüdische Familie deportiert, in der ich aufgewachsen bin.
Der industriemäßig betriebene Mord verlief nach Plan. Ende 1941 stand fest, dass alle Juden vernichtet werden. Und im Januar 1942 fand die Wannsee-Konferenz statt, wie sie später genannt wurde. Da wurde festgelegt, wie die »Endlösung der europäischen Judenfrage« – im Klartext: die vollständige Liquidierung der Juden Europas – zu organisieren ist und um wie viele Juden es sich handelt. Fünfzehn Männer saßen bei einem guten Frühstück in einer Villa am Wannsee beisammen und sprachen über die Ermordung von elf Millionen Menschen, darunter anderthalb Millionen Kinder.

»Großaktion Juden«

Danach rollten die Deportationszüge. Aber der Naziführung ging es nicht schnell genug mit dem Abtransport der Juden. Sie bereiteten die »Großaktion Juden« vor. Das war das, was nach 1945 die Bezeichnung »Fabrikaktion« bekam. Die Fabrikaktion in Berlin begann am 27. Februar 1943. An jenem Tag und an den folgenden Tagen wurden die Juden aus den Fabriken und aus den Wohnungen geholt oder auf der Straße aufgegriffen. Tagelang wurde Jagd auf Juden gemacht. Auf Lkw wurden sie durch die Straßen gefahren, zumeist auf offenen Lastkraftwagen – mehr als 8.000 Menschen, gekennzeichnet mit dem gelben Stern. Diese Umzüge waren nicht zu übersehen. Das müsste jeder in der Stadt bemerkt und gewusst haben. Sie wurden zu Sammelstellen gebracht. Die Transporte wurden zusammengestellt. Dann ging es zum Gleis 17.
In den Tagen der Fabrikaktion fuhren von diesem Gleis fünf Züge ab. Einen möchte ich nennen, als Beispiel. Am 5. März gingen 1.128 Juden auf Transport. Bei der Ankunft in Auschwitz mussten 151 Männer und 490 Frauen und Kinder sofort den Weg zu den Gaskammern gehen. Zwei Tage später waren sie nicht mehr am Leben. Und wie viele von denen, die als arbeitsfähig bestimmt worden waren, werden überlebt haben? Vielleicht reichen die Finger einer Hand, um sie zu zählen.
Meine Mutter kam in die Sammelstelle Große Hamburger Straße. Ich stand mit meinem Vater und vielen Menschen davor. Menschenansammlungen waren verboten, doch wir kümmerten uns darum nicht, und niemand versuchte, uns zu vertreiben. Dort zu stehen und zu warten war eine Demonstration, ein Zeichen von Protest. Aber darüber habe ich damals nicht nachgedacht. Ich erinnere mich nur, dass es sehr kalt war und ich große Angst um meine Mutter hatte. Am dritten Tag, spätabends, kam sie aus dem Haus. Wir verließen Berlin für mehrere Wochen, sicherheitshalber. (…)

System beim Namen nennen

Schon eine Woche vor Beginn der Fabrikaktion, am 20. Februar, hatte auf Anordnung von Goebbels der Leiter der für die Organisation der Deportation zuständigen Abteilung im Reichssicherheitshauptamt, Adolf Eichmann, an alle beteiligten Nazistellen die Weisung ausgegeben, Juden aus Mischehen und eine ganze Reihe anderer Juden vorerst nicht zu deportieren, sondern ihren jüdischen Status und ihre berufliche Qualifikation festzustellen, sie zu registrieren – für spätere Deportationen – und dann freizulassen.
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Vera Friedländer im Jahr 1945
Goebbels, »Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda«, fürchtete mit Recht größere Unruhen in der Stadt, wenn zu diesem Zeitpunkt auch diese Juden deportiert werden. Denn es gab mehrere tausend »Mischehen« in Berlin, und dazu gehörten nichtjüdische Angehörige, Freunde, Kollegen, Nachbarn, also viele Menschen, die bestimmt energisch protestiert hätten, vielleicht auch auf die Straße gegangen wären. Es war die Zeit unmittelbar nach Stalingrad, und die Stimmung in der Bevölkerung war schlecht. Goebbels brauchte eine stabile »Heimatfront«, um den Krieg fortsetzen zu können, und keine Unruhen in der Hauptstadt. Darum seine Order und Eichmanns Weisung.
Anderthalb Jahre ließen uns die Nazis in Ruhe. Dann kam der Angriff auf die »Mischehen« in jenem Herbst 1944, als ich auf der Brücke stand und um meinen Vater bangte. Dass ich selbst gefährdet war, wusste ich nicht. Meine Mutter war in der Großen Hamburger Straße registriert worden und ich mit ihr. Das verschwieg sie mir. Im streng geheimen Protokoll der Wannsee-Konferenz, das erst nach dem Krieg bekanntwerden sollte, ist dazu festgeschrieben: »Mischlinge 1. Grades sind im Hinblick auf die Endlösung den Juden gleichgestellt.« Das hieß: Sie sind wie diese zu liquidieren.
Wenn ich über diese Zeit spreche, nenne ich sie nicht »Nationalsozialismus«. Dieses Wort lenkt von der Unmenschlichkeit des Systems ab. Es war ein Werbewort der Nazis, um die Massen zu gewinnen, die sich unter Sozialismus etwas Erstrebenswertes vorstellten. Sie versprachen ihnen einen »nationalen Sozialismus«. Das war Betrug. Die Nation führten sie in den Krieg, und den Sozialismus bekämpften sie. Leider verwendet heute fast jeder in unserem Land dieses Wort, als sei es gesellschaftlich vorgeschrieben. Ich ziehe es vor, das System mit dem Wort zu bezeichnen, das international üblich ist: Faschismus, deutscher Faschismus. Es drückt nach meinem Empfinden genau das aus, woran wir hier erinnern.

Verpflichtet zu sprechen

Erinnerung ist ein Blick zurück, auch ein Nachdenken über das, was heute ist und was morgen sein kann. Es ist eine Mahnung, nichts zu vergessen, und eine Warnung vor neuer Gefahr. Ich fühle mich verpflichtet, darüber zu sprechen. Das bin ich der großen Familie schuldig, die es 1945 nicht mehr gab. Die Nummern der Transporte und die Namen auf den Transportlisten sind die letzten Zeugnisse ihrer Existenz. Das jüngste Opfer meiner Familie war das kleine Mädchen Bella. Es war noch nicht einmal zwei Jahre alt. Diese Erfahrung bestimmt mein Denken und Handeln.
Wir drei – meine Mutter, mein Vater und ich – haben alles überstanden. Meine Mutter war bis zuletzt in unserer Wohnung, unbehelligt. Eine Beamtin im Arbeitsamt für Juden hatte die Unterlagen meiner Mutter verschwinden lassen. Es gab nicht nur Täter und Opfer, es gab auch mutige Helfer. Aber sie waren selten.
Wenige Tage bevor die Rote Armee den Ring um Berlin schloss, stand mein Vater vor der Tür. Er war aus dem Lager geflohen. In dem Chaos jener Tage suchte niemand nach ihm. Und ich ging nicht mehr zur Zwangsarbeit. Ich war mit 16 Jahren zur Zwangsarbeit geholt worden für den Reparaturbetrieb von Salamander in der Köpenicker Straße 6a–7 in Berlin-Kreuzberg. Wir, die Zwangsarbeiter verschiedener Länder, wurden dort von SS bewacht, zur Arbeit angetrieben und manchmal auch misshandelt.
Mahnung und Warnung sind bitter nötig, weil menschenfeindliche Ideen massenhaft verbreitet werden, und Gewalttaten sind die Folge. Wir kennen die täglichen Nachrichten. Ich nenne trotzdem ein Beispiel. Im Frühjahr gab es eine Pressemeldung. In einem sächsischen Ort war ein Ausländerheim in Brand gesteckt worden. Leute der Umgebung halfen, Menschen zu retten und Verletzte zu versorgen. Etwas abseits stand eine Meute, die rief: »Lasst sie verbrennen!« In meinen Ohren hört es sich an, als hätten sie gerufen: »Schickt sie ins Gas!« Um der Mahnung und Warnung willen stehe ich hier.
Bertolt Brecht schrieb über das Gedächtnis der Menschheit, es sei kurz. Man vergesse schnell und denke kaum an die Gefahr künftigen Leids. Und darum forderte er uns auch auf: Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zuwenig gesagt wurde. Lasst uns die Warnungen erneuern, selbst wenn sie schon wie Asche in unseren Mündern sind.

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