Sonntag, 10. Juni 2018

Schläft ein Lied in allen Dingen (Gerd Puls)


I.
Heimat? Mehr als ein zwiespältiges Gefühl?
Mehr als intakte Städtchen und Dörfer
Die sich nicht abhängen lassen
Mehr als gepflegte Wälder, Bäche, Seen
Und artenreiche Felder?


Heimat? Ein Fleckchen Erde mit gesunden Tieren
Vogelgezwitscher und glücklichen Menschen
Mit Schützenumzügen und gemütlichen Kneipen
Mit Geselligkeit und guter Nachbarschaft
Nach dem Motto: hier kennt jeder jeden


Heimat? Eine Ecke zum Wohlfühlen, ein gutes Gefühl
Wo jeder jedem hilft. Hier stehste nicht alleine
Wenn der Dorfpolizist, dein alter Klassenkamerad
Dich locker weiterfahren lässt
Wenn du mal sturzbesoffen bist


Heimat? Wo sich die Windräder drehn
Schweinemastanstalten, Glyphosat und Gülle
Um die Wette zum Himmel stinken
Küken massenhaft geschreddert werden
Der Priester den Messdiener in die Hose langt


Heimat? Wo die Osterfeuer qualmen
Die letzte Schule geschlossen wird
Wo sich die Bierleichen stapeln beim Schützenfest
Ein Holzkreuz und frische Blumen, wo der PKW
Mit den jungen Leuten am Alleebaum zerbarst


Heimat? Ein Städtchen, ein Dorf mit Poststelle
Kita, Doktor, Pastor und einem Aldi vor der Tür
Mit Geselligkeit, Vereinen, einem Fußballfeld
Gegen die Langeweile am Sonntagvormittag
Einer Suhle für jede Sau


Heimat? Ein brodelnder Sumpf, in dem
Die braune Brühe nach oben schwappt?
Was ist Heimat schon groß? Schlichte Idylle
Herkunft und Erinnerung
Schläft ein Lied in allen Dingen


II.
Heimat und Heimatverlust
Und immer neue Flüchtlingsströme
Aus immer neuen, immer alten Krisen- und Kriegsgebieten
WeltKriegsZweiFlüchtlingsElend, so lange her
Da ließen sich Heimatgefühle fünfundsiebzig lange Jahre
Wunderbar pflegen und genießen


Heimat ist dort, wo du dein Geld verdienst
Oder nicht ganz so nüchtern und prosaisch:
Heimat ist dort, wo ich sicher bin und satt werde
Wo meine Liebsten sind
Wo meine Erinnerung
Noch immer lebt


Heimat ist dort, wo ich die paar Kilometer
Mit dem Schulbus fuhr, an der Ecke die erste Freundin traf
Wo mein Dorf in den Fluten des Stausees versank
Vom Tagebaubagger weggeräumt wurde
Heimat ist dort, wo Bomben und Raketen
Meine Stadt zerstörten und es kein Leben mehr gab


Heimat, lächerlicher Appell ans kindliche Gemüt
Seht her, wie einzigartig jede Ecke ist
Harmlose, liebevolle kindliche Tröstung
Erinnerungen, die privat sind, privat bleiben
Nunmehr verwaltete Erinnerung von etwas
Das der einzelne sich nicht hat aussuchen können


Heimat, Heraufbeschwören längst vergangener Zeit?
Beschwichtigung, Verharmlosung, Fahrlässigkeit
Entgegenkommen und Handreichen den ewig Gestrigen?
Heimat, bloß ein Gefühl: glücklich, gemütlich, kleinkariert
Oder unglücklich, kompliziert, bedrückend, zerstörerisch
Wie schön, dass es jetzt ministeriell verwaltet wird

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