Montag, 11. Juni 2018

Egon Krenz hat seine Sicht auf die Volksrepublik China zusammengefasst

Eine ernste Partei


Von Heerke Hummel
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Liveübertragung einer Ansprache von Chinas Präsident Xi Jinping in Schanghai (25.10.2017)
Egon Krenz: China. Wie ich es sehe. Edition Ost im Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2018, 155 Seiten, 12,99 Euro
Im Herbst 2017 hat Egon Krenz China besucht. Er war von der Akademie für Gesellschaftswissenschaften in Beijing zu einer Konferenz zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution eingeladen worden. Nun hat er seine dort gewonnenen Eindrücke in einem Buch veröffentlicht. Stark beschäftigt den Autor die Einheit von Kontinuität und Erneuerung im Denken der Führung der Kommunistischen Partei Chinas. Diese habe ihre Geschichte wirklich aufgearbeitet, indem sie sich in einer öffentlichen Diskussion mit den Ursachen von Fehlern auseinandersetzte. Die Zusammenfassung der ungelösten Probleme und die Orientierung zu ihrer Überwindung durch den aktuellen Generalsekretär Xi Jinping habe, so Krenz, einem Hinweis Lenins geglichen, »den wir in der SED vernachlässigten: ›Einen Fehler offen zugeben, seine Ursachen aufdecken, die Umstände, die ihn hervorgerufen haben, analysieren, die Mittel zur Behebung des Fehlers sorgfältig prüfen – das ist das Merkmal einer ernsten Partei.‹«
Egon Krenz benennt Fehler und Fehleinschätzungen der SED-Führung unter Erich Honecker, der auch er selbst angehört hat, in der Auseinandersetzung mit Auffassungen von Walter Ulbricht. Dabei sei man in die Falle von Wünschen und Illusionen getappt. Darum beruhige es ihn, zu sehen, dass die chinesische Führung am Marxismus-Leninismus festhalte, denn sie verstehe ihn unverändert als Kompass für den »Sozialismus chinesischer Prägung«. Und ihn beeindruckt der Weitblick, mit dem sie gesellschaftliche Entwicklungen angeht und tatsächlich führt sowie strategische Ziele anvisiert.
Als Beleg für diesen chinesischen Weitblick führt der Autor zum Beispiel Auszüge aus der jüngsten Parteitagsrede von Xi Jingping an, in der dieser die Völker der Welt zu einer koordinierten Entwicklung unseres Planeten aufrief. An alle Völker wird appelliert, eine Schicksalsgemeinschaft der Menschheit zu gestalten und eine Welt aufzubauen, die durch dauerhaften Frieden, allgemeine Sicherheit, gemeinsame Prosperität sowie Offenheit und Inklusion gekennzeichnet ist. Eine ganz neue Qualität der Zusammenarbeit wird angestrebt, wenn der chinesische Parteichef von einem durch gemeinsame Konsultation, gemeinsamen Aufbau und gemeinsames Gewinnen gekennzeichneten Konzept des globalen Regierens spricht. Da fragt man sich als Leser: Könnte das nicht vielleicht ein Konzept zur Durchsetzung des Primats der Politik über die Ökonomie in globalem Maßstab und im Interesse aller Menschen sein? Könnte dieses Denken als ein neues Verständnis des Marxschen proletarischen Internationalismus unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts angesehen werden?
Beilage Literatur, 13.6.
Dieser Gedanke kommt einem bei der Lektüre dieses Buches häufiger, etwa an der Stelle, an der der Autor sich mit der Frage auseinandersetzt, wie die chinesische Führung gesellschaftliche Widersprüche zu lösen und das Vertrauensverhältnis zwischen Volk, Staat und Partei zu festigen versucht. Da spielen der Sinn des Lebens und die Suche nach einem lebenswerten Sozialismus eine Rolle, aber eben auch die Annahme, dass es ohne die Führung durch die Kommunistische Partei keine sozialistische Demokratie gebe.
Wichtig ist dem Autor, wie eine regierende Partei mit der Macht umgeht. Dass es den europäischen Sozialismus nicht mehr gibt, ist, so Krenz, nicht die Schuld von Marx, Engels und Lenin. »Eher waren Leute wie ich, die große Verantwortung trugen, schuld daran, dass der Marxismus-Leninismus bei uns zu oft nur ein Dogma blieb«, stellt er selbstkritisch fest.
Er kann – und er will es auch gar nicht – keine theoretische Begründung für seine Einschätzungen geben. Er sei kein Ökonom oder gar Volkswirt und könne die Wirkung der chinesischen Politik von »Reform und Öffnung«, von »Sozialistischem Marktwirtschaftssystem« einerseits und »Teilnahme an der Weltwirtschaft« andererseits fachlich nicht beurteilen. Er sehe aber in der Ausnutzung der Gesetze des Marktes und entsprechender kapitalistischer Methoden keine Rückkehr zum Kapitalismus, solange die Ergebnisse dem Wohl des Volkes dienen. Krenz verlässt sich nach eigener Aussage »auf die Praxis als Prüfstein für die Theorie«.
Unter diesem Theoriedefizit leidet die sozialistische Bewegung weltweit. Sie muss sich fragen lassen, was im Westen ökonomisch zu verändern ist, wenn das gleiche ökonomische System in China als sozialistisch gilt. Die Betrachtungen von Krenz legen eine Antwort nahe: Nichts! Es geht nur noch um die politische Macht, die dazu verwendet wird, die Wirtschaft zu beherrschen und ihr gesellschaftlich sinnvolle Vorgaben zu machen und Grenzen zu setzen. Vielleicht ist die ökonomische Theorie von Karl Marx, seine Analyse von Ware, Wert und Kapital weiterzudenken – ausgehend davon, dass sich die ökonomischen Verhältnisse grundlegend verändert haben, indem sich das Geld aus einer allgemeinen Äquivalentform in ein gesellschaftliches Arbeitszertifikat verwandelte.

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