Sonntag, 10. Juni 2018

»Der Rechtsentwicklung nicht tatenlos zuschauen«


Die Linke streitet über eine linke Sammlungsbewegung und die Regulierung von Migration. Ein Gespräch mit Sahra Wagenknecht

Von Jana Frielinghaus
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Wagenknecht: »Wenn man Politik verändern will, muss man auch regieren wollen«
Sahra Wagenknecht ist Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag. Am heutigen Freitag beginnt in Leipzig der Linke-Parteitag, auf dem der Bundesvorstand neu gewählt wird

Hintergrund: Die Linke vor dem Parteitag

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Seit dem Jahreswechsel werben Sie für eine linke Sammlungsbewegung. Welche Rolle könnte oder sollte Ihre Partei in ihr spielen?
Sie sollte natürlich eine wichtige Rolle spielen. Es geht ja nicht um ein Alternativprojekt zu ihr, sondern um mehr Wirkungsmacht für die gesellschaftliche Linke. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass unsere Partei aktuell nur einen Bruchteil derer erreicht, die sich in den letzten Jahren enttäuscht und wütend von der SPD abgewandt haben. Ich möchte diese Menschen für linke Politik zurückgewinnen. Denn mein Ziel ist, dass wir irgendwann in der Lage sind, die Politik in diesem Land zu verändern.
Genossen kritisieren, dass die Idee nicht in den Gremien der Linkspartei zur Diskussion gestellt wird. Was entgegnen Sie darauf?
Zu meinen, dass man in Gremien eine Bewegung gründet, finde ich schräg. Das Projekt hat nur eine Chance, wenn es überparteilich ist und sich hier Mitglieder unterschiedlicher Parteien und Parteilose zusammenschließen, die gemeinsame Anliegen haben: wir wollen keine neoliberale Politik mehr, keine Kriege, keine Aufrüstung.
Zuletzt hat Gregor Gysi Skepsis gegenüber dem Projekt geäußert: Es gebe in der Linken schon lange Gesprächskreise mit unzufriedenen Grünen und Sozialdemokraten, außerdem komme die Initiative »von oben« …
Ich hätte auch lieber eine Bewegung auf der Straße. Aber die gibt es aktuell nicht. Immerhin bekommen wir eine überraschend starke positive Resonanz aus der Bevölkerung. Und was ist die Antwort der Kritiker auf das Dilemma, dass Die Linke trotz Absturz der SPD in Umfragen kaum über zehn Prozent hinauskommt? Wenn wir nichts tun, wird sich die Politik immer weiter nach rechts verschieben, irgendwann sitzt die AfD in der Regierung. Ich will dieser gefährlichen Entwicklung nicht tatenlos zuschauen. Denen, die sich bemühen, das Projekt totzureden, sage ich: erstens werden sie das nicht schaffen und zweitens sollten sie lieber daran mitwirken, es zu einem Erfolg zu machen, wenn sie sich als Linke verstehen. Nur die Herrschenden und die Profiteure des heutigen Systems haben ein nachvollziehbares Interesse, auf ein Scheitern zu hoffen.
Die Linke in Ostdeutschland wird von Bürgern vor allem wegen ihrer Fixierung auf Regierungsbeteiligungen und Parlamentarismus als Teil des Establishments wahrgenommen. Das dürfte zum Wahlerfolg der AfD beigetragen haben. Das Sammlungsprojekt läuft auf eine Regierungsbeteiligung von Ihnen und anderen im Bund hinaus. Sehen Sie nach den bisherigen Erfahrungen mit der SPD nicht die Gefahr, dass Die Linke in so einem Bündnis krachend untergehen könnte?
Wenn man Politik verändern will, muss man auch regieren wollen. Allerdings nicht mit Frau Nahles und Herrn Scholz, die unbeeindruckt Sozialabbau und Aufrüstung fortsetzen. Natürlich ist es auf Landesebene schwieriger, grundlegende Veränderungen durchzusetzen, weil die Handlungsspielräume viel enger sind. Aber dort muss man dann eben Gestaltungskraft und zugleich Protestpartei gegen die Bundespolitik bleiben. Wenn man es will, geht das. Auf Bundesebene dagegen kann man die Rahmenbedingungen verändern. Um das zu schaffen, braucht man natürlich eine breite Bewegung im Rücken, die Druck macht. Sonst hat man keine Chance.
Seit Monaten wird Die Linke in der Öffentlichkeit vor allem durch ihre Kontroverse über die Flüchtlings- und Migrationspolitik wahrgenommen. Sie selbst haben dieses Thema immer wieder in den Vordergrund gerückt. Erheben Sie konkrete Forderungen zu programmatischen Aussagen der Partei?
Die Forderung nach »offenen Grenzen für alle« in unserem Parteiprogramm ist eine Forderung für eine Welt ohne Kapitalismus und Ausbeutung, in der die Menschen überall in ähnlichem Wohlstand leben. Aber es ist keine sinnvolle Forderung für die Gegenwart. Jeder von uns verteidigt das Asylrecht, alle sind der Meinung, dass wir solidarisch sein müssen mit Menschen in Not. Aber wo die Not am größten ist, schafft man es ohnehin nicht nach Europa, weil die Mittel dazu fehlen. Vor Ort zu helfen, ist deshalb die dringendste Herausforderung. Bei der Bekämpfung von Fluchtursachen müssen wir die Regierung immer wieder vorführen: Sie redet davon, tut in Wahrheit aber das Gegenteil: durch Ausplünderung armer Länder, unfaire Handelsabkommen, Waffenexporte.
Strittig ist, ob wir die Position vertreten sollten: jeder, der möchte, kann nach Deutschland kommen, hat hier Anspruch auf Sozialleistungen und kann sich um Arbeit bemühen. Das ist eine Position, die man meines Erachtens nicht durchhalten kann. Und ich finde es interessant, dass die Parteispitze, die offene Grenzen für alle befürwortet, selbst einräumt, das es dafür keine »reale Umsetzungsperspektive« gibt. Es sei lediglich eine Haltungsfrage, wie Katja Kipping es ausgedrückt hat. Wenn sie selbst einräumt, dass das nicht umsetzbar ist, dann weiß ich nicht, warum diese Position dann mit solcher Verbissenheit verteidigt wird, obwohl wir damit gerade unter den Ärmeren Wähler verprellen.
Sie haben es selbst gesagt: Alle in der Linkspartei wollen Fluchtursachen bekämpfen und Menschen in ihren Heimatländern Perspektiven schaffen. Angesichts der herrschenden Machtverhältnisse sind diese Vorhaben doch aber nicht weniger »irreal« als das Ziel, Bewegungsfreiheit für alle zu ermöglichen. Warum also nicht auch daran festhalten?
Das sehe ich anders. Natürlich kann man auch im Kapitalismus akzeptieren, dass ärmere Länder ihre Wirtschaft mit Zöllen schützen. Und selbstverständlich kann man das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR mit deutlich höheren Mitteln ausstatten und Waffenlieferungen in Krisenregionen stoppen.
In einem Interview haben Sie gesagt, die linke Debatte laufe »schräg«, wenn Solidarität »nur« daran festgemacht werde, »dass wir denen, die es hierher schaffen, gute Bedingungen« bieten. Ist es nicht eher schräg, die höheren Kosten, die jene verursachen, die es in die Industriestaaten geschafft haben, gegen die viel geringeren für in armen Ländern Verbliebene aufzurechnen?
Die Flüchtlingswelle 2015/2016 war wesentlich dadurch bedingt, dass Menschen, die schon aus Syrien geflohen waren, sich noch einmal auf den Weg gemacht haben, weil sie in den Nachbarländern unsägliche Bedingungen vorgefunden haben. Selbst Deutschland hatte damals seine Überweisungen an das UNHCR gekürzt, dort wurden die Lebensmittelrationen halbiert, medizinische Versorgung, Schulbildung, das alles gab es nicht. Man hätte vor Ort viel frühzeitiger helfen können und müssen.
Es geht nicht darum, Ausgaben gegeneinander aufzurechnen, sondern darum, dass Geld nicht zweimal ausgegeben werden kann. Von den über 12 Millionen Kriegsflüchtlingen aus Syrien sind damals gut 500 000 nach Deutschland gekommen, alle anderen sind immer noch vor Ort. Und sie haben immer noch katastrophale Bedingungen. In Deutschland werden aktuell 28 Milliarden Euro pro Jahr für Integration aufgewandt. Wenn auch nur die Hälfte dieser Summe vor Ort zur Verfügung stünde, würde damit vielen Millionen Menschen, darunter den Ärmsten und Schwächsten, geholfen.
Die Leute sind nun mal da. Sollen die ohne positiven Asylbescheid wieder weggeschickt werden?
Wer Anrecht auf Asyl hat, muss Schutz bekommen. Aber die Flüchtlingskrise hätte verhindert werden können, wenn man sich vor Ort gekümmert hätte …
Aber keiner in der Linken sagt, man solle nicht mindestens genauso vor Ort helfen.
Es gibt eine Tendenz, Migration zu idealisieren. Und seinen Fokus vor allem auf diejenigen zu richten, die es hier her schaffen. Das halte ich für falsch. Eine Gesellschaft kann immer nur in einem bestimmten Rahmen Menschen aufnehmen. Und neben den Fluchtgründen Verfolgung und Krieg gibt es eben auch viele, die aus dem legitimen Wunsch heraus kommen, hier ein besseres Leben zu finden. Aber diese Arbeitsmigration macht erstens die Heimatländer noch ärmer, denn es ist immer die Mittelschicht, die abwandert. Und sie bedeutet, die Lohnkonkurrenz hier bei uns zu verschärfen. Deshalb ist ja die Kapitalseite ein begeisterter Anhänger offener Grenzen, weil es für sie ein probates Mittel ist, die Löhne weiter zu drücken.
Aber letztlich nützt dem Kapital vor allem das restriktive Grenzregime der EU, das Menschen keine legale Einreise ermöglicht. Menschen ohne Papiere lassen sich am besten zu ausbeuten.
BDI und BDA trommeln seit langem für ein Einwanderungsgesetz, das die Zuwanderung von Arbeitskräften erheblich erleichtert. Ich bin nicht für ein restriktives Grenzregime, aber für die Einhaltung von Gesetzen. Wir haben ein Asylrecht, wir müssen uns um Kriegsflüchtlinge kümmern. Aber, und das ist eine Position, die nahezu alle linken Parteien in Europa teilen: Wir würden als Linke einen großen Fehler machen, wenn wir im Interesse des Kapitals Arbeitsmigration fördern würden.
Kann man sich als Linker auf die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention zurückziehen, die nur im Falle politischer Verfolgung ein Recht auf Asyl vorsieht? Haben Leute, die vor Dürre fliehen, wirklich Alternativen?
Den Hungernden und Ärmsten nützen offene Grenzen nichts. Sie haben keine Möglichkeit, nach Europa zu kommen. Deswegen muss man vor Ort helfen, wo es am dringendsten ist.
Sie und andere in der Linkspartei meinen, ein »nationalstaatlich organisierter Sozialstaat« müsse verhindern, dass die Konkurrenz der Zugewanderten mit den schon hier Lebenden nicht zu groß wird. Aber die BRD ist Teil der EU. Wie also soll es funktionieren?
Wir haben immer gefordert, dass das Dublin-Abkommen durch ein faires System ersetzt wird. Es muss Kontingente und eine gleichmäßige Belastung der Mitgliedsländer geben. Die herrschenden Regeln führen dazu, dass gerade Länder wie Griechenland, die ohnehin schon eine schlimme Krise haben, auch noch überproportional große Lasten tragen. Entsprechend katastrophal sind dort die Zustände in den Flüchtlingscamps.
Kürzlich haben Sie zur sogenannten Affäre um die Bremer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge geäußert, es gehe dort »offenkundig um organisierte Kriminalität und schwerwiegenden Betrug«. Reichen die vorliegenden Indizien, um so schwerwiegende Vorwürfe öffentlich zu wiederholen?
Es gibt ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft wegen bandenmäßigen Betrugs. Ich habe nicht gesagt, dass das erwiesen ist, sondern dass die Vorwürfe im Raum stehen und aufgeklärt werden müssen. Ich finde, Die Linke muss immer die Partei des Rechtsstaats und der Aufklärung sein. Nicht zuletzt deshalb, weil falsche Positivbescheide immer auch bedeuten, dass umgekehrt Menschen, die Anrecht auf Asyl haben, dieses nicht bekommen. Denn diese Behörde ist ja auch unter Druck, Quoten zu erfüllen. Es soll sich zumindest teilweise um Islamisten gehandelt haben, denen Asyl gewährt wurde, und es gibt den Vorwurf, dass Geld geflossen ist.
Es gibt einen Anfangsverdacht und bei der Mehrzahl derer, die angeblich zu Unrecht einen Positivbescheid bekommen haben, handelt es sich um Jesiden aus Syrien. Es gibt bislang wenig konkrete Hinweise auf Korruption in Bremen.
Es geht nicht nur um Bremen. Dass im BAMF teilweise katastrophale Zustände herrschen, sieht man ja schon daran, dass Millionen dafür verschleudert wurden, Beratungsfirmen wie McKinsey zu bezahlen, dass Leiharbeiter eingesetzt wurden, dass es unzählige befristete Verträge gibt. Da ist offensichtlich viel schief gelaufen, und die Linke muss darauf dringen, dass das verändert wird. Immerhin trifft diese Behörde Entscheidungen über menschliche Schicksale, im schlimmsten Fall über Leben und Tod.
Soll die Aufklärung im Innenausschuss des Bundestages stattfinden oder in einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss?
Wenn man das im Innenausschuss leisten kann, dann natürlich dort, zumal er aktuell arbeitsfähig ist. Die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses ist ein langwieriges Verfahren. Aber wenn die Regierung mauert und die Aufklärung im Innenausschuss nicht vorankommt, dürfen wir andere Optionen nicht von vornherein ausschließen.
Hinweis der Redaktion: Bei diesem Text handelt es sich um die vom Büro Sahra Wagenknechts autorisierte Version des Interviews, die die Redaktion leider erst nach dem gestrigen Druckschluss erreichte.

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