Montag, 11. Juni 2018

Auf die sozialistische Landwirtschaft folgte nach dem Zusammenbruch der DDR 1989/90 die Rückkehr zu kapitalistischen Formen der Agrarproduktion. Mit teils verheerenden Folgen

Wer Armut sät


Von Gerd Bedszent
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Nach Verabschiedung des Treuhandgesetzes im Juni 1990 gingen den ostdeutschen Agrargenossenschaften die Eigentumsrechte verloren. Dagegen richtete sich im Sommer 1990 der Protest der Bauern
Eine deutlich kürzere Fassung dieses Artikels erschien in der Ausgabe 2/2018 der Zweiwochenzeitschrift Ossietzky.
Im Verlaufe der frühen kapitalistischen Entwicklung fielen große Teile der Handwerksproduktion einem rabiat betriebenen Übergang zur Manufakturproduktion zum Opfer. Revolten der damals gewaltsam in die Maschinerie der Lohnarbeit Hineingepressten gelten als erste Anfänge der sich herausbildenden Arbeiterbewegung. Die kapitalistische Entwicklung wurde aber auch von einer gnadenlosen Durchrationalisierung der Agrarproduktion samt brutal umgesetzter Vertreibung der als »überflüssig« betrachteten Landbevölkerung begleitet. Die enteigneten Bauern wurden dann häufig als vagabundierende Bettler Opfer barbarischer Blutgesetze, landeten in Zucht- und Arbeitshäusern oder wurden nach Übersee deportiert. Schon der humanistische Denker Thomas Morus (1487–1535) beschrieb in seiner Schrift »Utopia« mit bitterböser Ironie die Ablösung des traditionell betriebenen Ackerbaus durch die profitträchtigere Schafzucht: »Das sind eure Schafe, (…) die so sanft und genügsam zu sein pflegten, jetzt aber, wie man hört, so gefräßig und bösartig geworden sind, dass sie sogar Menschen fressen, Felder, Gehöfte und Dörfer verwüsten und entvölkern (…) Ein einziger Schaf- oder Kuhhirt genügte ja, um dasselbe Land vom Vieh abweiden zu lassen, zu dessen Bebauung und Bestellung viele Hände erforderlich waren.«¹ Gelegentlich kommt in Nachrichtensendungen unserer Gegenwart vor, dass eine solche Durchrationalisierung der Agrarproduktion noch immer stattfindet. Nichtregierungsorganisationen prangern regelmäßig die Enteignung afrikanischer Bauern durch europäische Konzerne an. Umweltschutzorganisationen verweisen ebenso regelmäßig auf die zerstörerischen und gesundheitsgefährdenden Nebenwirkungen einer industriell betriebenen Agrarproduktion. Dass die vor nunmehr 28 Jahren erfolgte kapitalistische Landnahme im Osten Deutschlands und in Osteuropa tiefgreifende soziale Verwerfungen in den ländlichen Regionen zur Folge hatte, wird eher selten thematisiert.

Sozialistischer Sonderweg

Die Beseitigung von mittelalterlichem Großgrundbesitz war Aufgabe der bürgerlichen Revolutionen der frühen Neuzeit. Konsequent umgesetzt wurde die Enteignung feudaler Grundbesitzer allerdings nur in wenigen Ländern. Der russische Adlige und Anarchist Pjotr Alexejewitsch Kropotkin hatte 1909 geschrieben, die Französische Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts sei von einer Kette von Erhebungen der Agrarbevölkerung begleitet worden. Während man in Paris debattierte, plünderten halbverhungerte Bauern Getreidespeicher, verbrannten Grundbücher, stürmten die Schlösser des Landadels und zwangen diesen, auf seine überkommenen Feudalrechte zu verzichten.²
Kropotkin sah eine ähnliche Entwicklung auch für Russland voraus und behielt recht: Im Revolutionsjahr 1917 rissen bewaffnete Arbeiter in den Städten die Macht an sich, während zeitgleich aufständische Bauern die Adelsnester abfackelten und sich die nun herrenlos gewordenen Ländereien aneigneten. Als die Bolschewiki die Machtfrage für sich entschieden hatten, gehörte zu ihren ersten Maßnahmen, diesen Eigentumsübergang durch einen Bauernkongress legitimieren zu lassen.
Nach Überwindung der Nachkriegskrise wurden die Bauern von der Sowjetmacht genötigt, sich zu landwirtschaftlichen Kooperativen zusammenzuschließen. Dies läuft bis heute unter dem Begriff »Zwangskollektivierung« und gilt als unverzeihlicher krimineller Akt gegen das bürgerliche Eigentumsrecht. Tatsächlich resultierte der damals durchgesetzte Zusammenschluss von Kleinparzellen zu agrarwirtschaftlich genutzten Großflächen aus einer simplen Logik: Mit Hilfe von Landmaschinen lassen sich große Flächen effektiver bewirtschaften. Man nimmt der Sowjetregierung aber bis heute übel, dass sie diese an sich logische Konzentration von Agrarflächen nicht der blinden Gewalt der Marktkräfte überließ, sondern außerökonomisch beförderte.
Die im Jahr 1927 in der Sowjetunion in großem Maßstab begonnene Orientierung auf eine Kollektivierung der Landwirtschaft erfolgte unmittelbar nach dem vom XIV. Parteitag der KPdSU gefassten Beschluss zur umfassenden Industrialisierung. Aber nur ein vergleichsweise kleiner Teil des Landbesitzes wurde verstaatlicht und dann in Form von Staatsgütern (Sowchosen) bewirtschaftet. Die mehrheitlich in Genossenschaftsbetrieben (Kolchosen) organisierten Bauern blieben weiterhin Eigentümer ihrer Parzellen – man hatte sie lediglich dazu genötigt, das Nutzungsrecht an diesen Flächen mit ihren Dorfnachbarn zu teilen. Dass der Prozess der Kollektivierung mit heftigen Auseinandersetzungen verbunden war – beispielsweise landeten zahlreiche Großbauern, die sich der Kollektivierung verweigerten, schließlich in Straflagern –, ist nie ein Geheimnis gewesen: Man lese die Werke sowjetischer Literatur über diese Zeit.
Das sowjetische Modell der Einführung einer weitgehend industriellen Agrarproduktion auf großen Flächen wurde nach 1945 von den meisten osteuropäischen Staaten – auch von der 1949 gegründeten DDR – kopiert. Auf eine Aufteilung der großen Landgüter unter Landarbeitern, Klein- und Mittelbauern folgte ein Zusammenschluss zu Agrargenossenschaften und die Zusammenlegung von Kleinparzellen. Die weitere Entwicklung verlief in den betreffenden Ländern allerdings unterschiedlich. In der Sowjetunion wurde der Konzentrationsprozess ständig vorangetrieben, kleinere Genossenschaften gedrängt, sich zu größeren Komplexen zusammenzuschließen. Gleichzeitig wuchs der Staatsbesitz an Agrarflächen permanent und überstieg schließlich den genossenschaftlichen Anteil. Eine ähnliche Entwicklung fand auch in Bulgarien statt. In Ungarn, Rumänien und der Tschechoslowakei dominierte bis 1989 der genossenschaftliche Anteil die Agrarwirtschaft – es kam jedoch auch hier zu Zusammenschlüssen kleinerer Genossenschaften zu größeren Agrarkomplexen. In der VR Polen blieb der Prozess des Zusammenschlusses von privaten Kleinparzellen zu Genossenschaften in Anfängen stecken. Fast die gesamte polnische Agrarproduktion erfolgte bis 1990 immer noch durch winzige Familienunternehmen.³

Erfolgsmodell DDR

Auch die Agrarproduktion im Osten Deutschlands war bis 1945 zu großen Teilen von Rittergütern dominiert, die sich im Besitz von traditionell rückwärtsgewandten Adelsgeschlechtern befanden. Eine Aufteilung von deren Ländereien und auch zahlreicher Staatsdomänen erfolgte noch vor Gründung der DDR unter Verantwortung der Sowjetischen Militäradministration. Die KPD rief im September 1945 zu einer umfassenden Bodenreform zugunsten von Kleinbauern, Landarbeitern und Kriegsvertriebenen auf. Insgesamt etwa 1,7 Millionen Hektar wurden von den »Bodenreformkommissionen« verteilt. Es entstanden rund 210.000 Neubauernstellen. Etwa eine Million Hektar Agrarfläche ging außerdem in den Besitz staatlicher und kommunaler Einrichtungen über. Ein Teil davon wurde später als Volkseigene Güter (VEG) bewirtschaftet.⁴ Nicht enteignet wurde der Grundbesitz von Kirchen.
Der angestrebte Zusammenschluss dieser Neubauern mit anderen Klein- und Mittelbauern zu Genossenschaften ging allerdings sehr schleppend voran – im Jahr 1953 bewirtschafteten knapp 5.000 Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) 11,6 Prozent der Agrarfläche. Die Bildung weiterer Genossenschaften wurde durch zum Teil heftig ausgeübten Druck vorangetrieben. Die Ländereien von Bauern, die daraufhin der DDR den Rücken kehrten, wurden zunächst unter Zwangsverwaltung gestellt, später dann enteignet. Ähnliches passierte auch mit Neubauernstellen, die von ihren Besitzern wegen fehlender Rentabilität wieder aufgegeben wurden.
Die Gründung der Genossenschaften war aber mitnichten ausschließlich das Ergebnis von Zwangsmaßnahmen: Genossenschaftsbetriebe konnten zu vorteilhaften Konditionen staatliche Kredite in Anspruch nehmen; staatseigene Flächen wurden ebenfalls zu günstigen Bedingungen an LPG verpachtet; mit der Einrichtung von Maschinenausleihstationen (MAS) wurde die Technisierung der Agrarproduktion vorangetrieben – die allerdings eine Großfelderwirtschaft zur Voraussetzung hatte. Es war also schlicht von Vorteil, den bäuerlichen Einzelbetrieb zugunsten der Mitgliedschaft in einer LPG aufzugeben. Was schließlich die Mehrheit der Landbevölkerung auch einsah. Noch Anfang der 1990er Jahre war unter der ostdeutschen Agrarbevölkerung eine hohe Zustimmung zu den LPG nachweisbar.⁵
Als Ergebnis der »sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft« bearbeiteten 1988 3.855 LPG 86,4 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche der DDR. Eine weniger bedeutende Rolle spielten die 465 VEG, die nur 7,3 Prozent der Agrarfläche bewirtschafteten. 5,4 Prozent der Flächen befanden sich noch immer in privater Nutzung.⁶ Nach Abschluss der Kollektivierung war die DDR-Landwirtschaft im osteuropäischen Maßstab vergleichsweise effizient. Der Industriestaat DDR exportierte Agrarprodukte, während das Nachbarland Polen Lebensmittel importieren musste.

Ende und Neubeginn

Die Wirtschaft östlich der Elbe steckte nach Beseitigung des Arbeiter- und Bauernstaates in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre in einer schweren Krise, die auch den Agrarsektor erfasste. Die Landreform der Nachkriegszeit sowie der Zusammenschluss der Einzelbetriebe zu Agrargenossenschaften wurde jedoch von keiner der im Herbst 1989 entstandenen Bürgerbewegungen in Frage gestellt. Mehrheitlich gefordert wurde damals eine »ökologiegerechte Agrarproduktion«. Dies allerdings nicht ohne Grund: Leitende Funktionäre erzielten Produktionserfolge nicht selten unter Missachtung der Umweltgesetzgebung.
Die vor fast genau 70 Jahren auf Anregung und mit Unterstützung der SED gegründete Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) – zu Zeiten der DDR eine jede Direktive abnickende Blockflöte, dann rasch zur demokratischen Musterpartei geläutert – erklärte in ihrem am 28. Januar 1990 verabschiedeten Wahlprogramm, die »Grundorientierung auf genossenschaftliches und staatliches Eigentum in der Landwirtschaft [habe] sich als richtig erwiesen«. Weiterhin versicherte sie im besagten Programm, sich »nie mehr einer anderen Partei unterordnen« zu wollen. Die DBD erhielt bei der letzten Volkskammerwahl vom März 1990 2,2 Prozent der Stimmen. Der Parteivorstand beschloss daraufhin im Juni eine Fusion mit der CDU, was faktisch eine Kapitulation vor der konkurrierenden westdeutschen Agrarwirtschaft bedeutete. Die Mehrheit der einfachen DBD-Mitglieder weigerte sich freilich, diesen Schwenk mitzumachen. Und nur wenige der gewählten Volkskammerabgeordneten des DBD schlossen sich der CDU-Fraktion an.
Beilage Literatur, 13.6.
In der Endphase der DDR gab es den parteiübergreifenden Konsens, Enteignungen von Grundbesitz, die aus bestimmten politischen Gründen erfolgt waren, wieder rückgängig zu machen. Bodenreform und Kollektivierung insgesamt wurden aber erst von westdeutschen Politikern offen in Frage gestellt. Beobachter vermuteten in den damals losgetretenen Kampagnen den Einfluss von Lobbyisten des westdeutschen Bauernverbandes. Dieser fürchtete nicht ohne Grund die Konkurrenz der auf großen Flächen produzierenden ostdeutschen Agrarbetriebe und machte sich für deren Zerschlagung stark. Gelungen ist das aber nur teilweise.
Nach Verabschiedung des Treuhandgesetzes im Juni 1990 gingen den ostdeutschen Agrargenossenschaften die Eigentumsrechte verloren. Das im Juli 1990 in Kraft getretene Landwirtschaftsanpassungsgesetz (LAG) ließ ihnen aber die Wahl zwischen der Auflösung in bäuerliche Einzelwirtschaften oder der Neugründung in einer bürgerlichen Rechtsform. Als Ergebnis heftig tobender Auseinandersetzungen – Beobachter sprachen etwas überspitzt von einem in Ostdeutschland tobenden »Bauernkrieg« – gründeten sich die meisten ehemaligen LPG nach einer Übergangszeit in Gestalt einer eingetragenen Genossenschaft, einer GmbH oder einer GmbH & Co. KG neu. Bei einigen Genossenschaften misslang allerdings aus formaljuristischen Gründen diese Umwandlung; sie befanden sich meist lange Zeit »im Stadium der Liquidation«.
Da die Bodenreform des Jahres 1945 noch unter das Besatzungsrecht vor Gründung der DDR fiel, sind die damals durchgesetzten Eigentümerwechsel bis heute unangefochten. Und von den in der DDR gegründeten Agrargenossenschaften lösten sich nur wenige wieder in bäuerliche Einzelbetriebe auf. Im Vergleich zur Entwicklung in anderen osteuropäischen Staaten wird die Transformation des Agrarsektors der DDR in den Kapitalismus von Wirtschaftsspezialisten als durchaus gelungen eingeschätzt.

Folgen der Transformation

Es seien nachfolgend andere Beispiele genannt: In Rumänien kam es nach 1990 im Zusammenhang mit einer überstürzten Reprivatisierung der Genossenschaftsbetriebe zu einem Zusammenbruch großer Teile der landwirtschaftlichen Produktion.⁷ In Ungarn folgte auf die Zerschlagung der Genossenschaftsbetriebe der Ausverkauf von Grund und Boden an westliche Agrarkonzerne.⁸ In Bulgarien verfügte die erste nach 1990 gewählte Regierung ebenfalls eine zwangsweise Auflösung der Genossenschaftsbetriebe, was heftige Proteste der betroffenen Bauern zur Folge hatte.⁹ Zu einem Massensterben kleinbäuerlicher Betriebe und nachfolgendem Ausverkauf der Agrarflächen kam es auch in Polen.¹⁰ In der Ukraine, wo die in der sowjetischen Ära geschaffenen Agrarstrukturen anfangs noch Bestand hatten, musste sich nach einem auf die Tätigkeit einer bundesdeutschen Beratergruppe zurückgehenden Präsidialerlass aus dem Jahr 2000 die übergroße Mehrzahl der noch bestehenden Genossenschaftsbetriebe auflösen.¹¹ Der versprochene wirtschaftliche Aufschwung blieb selbstverständlich aus. Das osteuropäische Land versank vielmehr immer tiefer in einem Sumpf aus Armut, krimineller Bereicherung und Bürgerkrieg.
Hatte bei der marktwirtschaftlichen Transformation Ostdeutschlands die Vernunft also ausnahmsweise einmal gesiegt? Eher nicht. Die sozialen Folgen dieses Prozesses sind – langfristig gesehen – gravierend. Zum ersten hatten die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften in der DDR nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine soziale und kulturpolitische Funktion: Die LPG betrieben Berufsschulen, Kindergärten, Erholungsheime, medizinische Zentren, Kulturhäuser, bauten und warteten Straßen und Kläranlagen. Diese Funktion wurde von den Nachfolgeunternehmen nur stark reduziert wahrgenommen. Was nicht verwundern kann: Kapitalistische Unternehmen sind unabhängig von ihrer Rechtsform grundsätzlich nur auf das Erzielen von Gewinn ausgerichtet. »Branchenfremde« Unternehmensteile wurden im Zuge des Transformationsprozesses sehr schnell aufgelöst oder aber als selbständige Kleinunternehmen ausgegliedert. In der Folge kam es nach 1990 in den Agrargebieten Ostdeutschlands zu einem rapiden Verfall der Infrastruktur. Schon 1997 wurde in einer vom Sozialministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern herausgegebenen Studie zur Beschäftigungsentwicklung der Mangel an qualifiziertem Fachpersonal beklagt. Kaum eine Firma bilde noch Nachwuchs aus. Nicht wenige Bewohner verließen die ländlichen Regionen, die Bevölkerung schrumpfte beängstigend. Zahlreiche Dörfer sind mittlerweile auf dem besten Wege, von der Landkarte zu verschwinden.
Zweitens verband man die Transformation der Genossenschaftsbetriebe mit einem rabiat durchgezogenen Arbeitskräfteabbau. Unter dem Zwang, wirtschaftlich zu arbeiten, hatte das Management die neugegründeten Agrarunternehmen schonungslos durchrationalisiert. In einer statistischen Erhebung der Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern aus dem Jahr 1995 wurde allein zwischen 1990 und 1992 ein Beschäftigungsrückgang in der Landwirtschaft von 80 Prozent konstatiert¹2, 1996 betrug dieser Rückgang dann schon 84 Prozent.All das trotz staatlicher Zuschüsse und dem im Vergleich mit den alten Bundesländern wesentlich niedrigeren Lohnniveau. In der bereits genannten statistischen Erhebung wird betont, dass der durchschnittliche Einsatz von Arbeitskräften der DDR-Landwirtschaft des Jahres 1989 mit 9,3 Berufstätigen je 100 Hektar deutlich über dem Wert der alten Bundesrepublik von 6,6 Beschäftigten je 100 Hektar lag. Als Ergebnis des Strukturwandels in Mecklenburg-Vorpommern schrumpfte dieser Wert dann jedoch auf 1,9 Beschäftigte.¹3 Von den LPG-Bauern und VEG-Angestellten, die damals ihren Arbeitsplatz verloren, gingen viele in den vorgezogenen Ruhestand; andere vermehrten die Schar der Erwerbslosen oder verließen auf Jobsuche die Region.

Neue Kaste von Einheitsgewinnern

Und drittens kam es zu einer heftigen sozialen Ausdifferenzierung der zuvor weitgehend egalitären ostdeutschen Agrarbevölkerung. Schon in der DDR war nur etwa die Hälfte der von den LPG bewirtschafteten Flächen tatsächlich im Besitz der Genossenschaftsmitglieder gewesen; der Rest war auf der Grundlage von Pachtverträgen genutzt worden. Diese Pachtverträge hatten nach dem Ende der DDR keinen Bestand und mussten neu abgeschlossen werden. Gleichzeitig resultierte aus der erzwungenen Übernahme von Altschulden durch neugegründete Unternehmen eine heftige Verunsicherung der Beschäftigten. Nicht wenige Vorsitzende und Verwaltungskader der sich auflösenden LPG – oft Mitglieder und Funktionsträger der ehemaligen Blockparteien – nutzten diese Verunsicherung aus, um die Mehrzahl der Bauern aus den in Gründung befindlichen Nachfolgeunternehmen herauszukaufen. Die Methoden, mit denen man vorging, werden von Zeitzeugen als Nötigung und Erpressung bezeichnet. Aus solchen Gaunereien resultierten dann über Jahre andauernde juristische Auseinandersetzungen. Hatten die LPG meist Hunderte von Mitgliedern gehabt, so waren die Geschäftsanteile der Nachfolgeunternehmen oft im Besitz von nur wenigen Leuten. Diese wurden nun binnen weniger Jahre steinreich, während die Mehrheit der ehemaligen LPG-Bauern mit geringen Abfindungszahlungen und Pachtgebühren abgespeist wurde. Besonders in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg beherrschen neureiche Agrar­barone mittlerweile ganze Landkreise, kontrollieren die Behörden, terrorisieren Bürgerinitiativen und Umweltschutzverbände.
Im Windschatten dieser sozialen Ausdifferenzierung begannen dann auch westdeutsche Agrarkonzerne, sich in die für ihre Begriffe paradiesischen ländlichen Gefilde Ostdeutschlands einzukaufen. Während des Unterganges der DDR wurde häufig die Befürchtung geäußert, die 1945 enteigneten Junker kämen jetzt zurück. Tatsächlich waren es nur wenige Adelsgeschlechter, die nach 1990 versuchten, wieder im Osten Fuß zu fassen. An die Stelle der alten Rittergutsbesitzer trat eine neue Kaste von Einheitsgewinnern.
Anmerkungen
1 Ernesto Grassi (Hg.): Der utopische Staat, Reinbek bei Hamburg 1987, Seite 26 f.
2 Pjotr A. Kropotkin: Die Große Französische Revolution 1789–1793, Leipzig und Weimar 1982, Seite 39 ff.
3 Tode Todev und Johann Braza: Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften in Mittel- und Osteuropa, Göttingen 1994, Seite 29 ff.
4 Schriftenreihe des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Heft 413: »Enteignungen in der Landwirtschaft der DDR nach 1945 und deren politischen Hintergründe – Analyse und Dokumentation«, Münster 1992, Seite 8 f.
5 Lutz Laschewski: Von der LPG zur Agrargenossenschaft. Untersuchung zur Transformation genossenschaftlich organisierter Agrarunternehmen in Ostdeutschland, Berlin 1997, Seite 113
6 Klaus Schmidt: Landwirtschaft in der DDR. VEG, LPG und Kooperationen – wie sie wurden, was sie waren, was aus ihnen geworden ist, Agrimedia GmbH 2009, Seite 316 ff.
7 Todev/Braza, a. a. O., Seite 101
8 Hannes Hofbauer: EU-Osterweiterung. Historische Basis – ökonomische Triebkräfte – soziale Folgen, Wien 2007, Seite 96 f.
9 Todev/Braza, a. a. O., Seite 113
10 Hofbauer, a. a. O., Seite 121 f.
11 Gerd Bedszent: Wer Armut sät – deutsche Berater und die Neustrukturierung der ukrainischen Landwirtschaft, in: Ost-West-Information, Nr. 3/2000
12 Statistische Sonderhefte Mecklenburg-Vorpommerns, Sonderheft 8/1995, Seite 28
13 Statistische Sonderhefte, Seite 29 f.

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