Samstag, 12. Mai 2018

Wie ziehe ich die Grenzen meiner Lebenswelt?

"Wählet euch eine Insel!" sagt das Liber L vel Legis. / Der Mensch ist nur Mensch, wenn er sich Ziele setzt, sonst bleibt er ein Tier - das stammt, glaube ich, von Nietzsche. / Und wenn ein Thelemit sich fragt, was der Sinn des Leben ist, weiß er, dass er die Antwort nur selbst geben kann. In allen Fällen geht es um Entscheidungen, oder auch nur Wahlen, in allen Fällen geht es um Grenzziehung: Dies tue ich, jenes nicht. Wie unmodern. Und so wichtig!
Schillerdenkmal, Detailansicht

Die Freude zu leben

Im Folgenden möchte ich zeigen, wie wichtig das ist und wie das überhaupt geht. Ich wähle als Beispiel, damit es anschaulich wird, den Umgang Friedrich Schillers mit seiner Krankheit. Schiller war selber Arzt und er wusste, wann es ernst ist. Bei ihm war es ernst. Er hätte nun das Leben als seichten Rest ausklingen lassen können - man könnte ja auf Kur gehen ... Doch Schiller nicht. Er tat das Gegenteil: Bei ihm verstärkte die Bedrohung seines Lebens seine Schaffenskraft.
Mit Beginn des Jahres 1791 brach die lebensgefährliche Krankheit (vermutlich Tuberkulose) das erste mal aus. Schiller brach zusammen, krampfartige Hustenanfälle schüttelten ihn, Ohnmachten warfen ihn zu Boden. Der Arzt Schiller war sich sicher, dass er nur noch wenige Jahre zu leben haben wird. Ihm war klar, dass sein langsames Sterben begonnen hat, dass er mit der verbleibenden Zeit haushalten muss. Da war Schiller 31 Jahre alt. Im Februar desselben Jahres beginnt er sein Kant Studium, das er etwas später so einstufen wird: Er wolle Kant verstehen "... und wenn es mich drei Jahre meines Lebens kostet". Er braucht diese Studien, um das Wesen von Kunst und des Schönen schärfer zu fassen.
In einem Brief an seinen Freund Körner schreibt er am 1.1. 1792: "Ich treibe jetzt mit großem Eifer Kantische Philosophie und gäbe viel darum, wenn ich jeden Abend mit Dir darüber verplaudern könnte. Mein Enschluß ist unwiderruflich gefaßt, sie nicht eher zu verlassen, bis ich sie ergründet habe, und wenn mich dieses auch drei Jahre kosten könnte."

Wie Agape wirkt

Im Ausland geht das Gerücht, Schiller sei tot. Verehrer halten eine Totenfeier für ihn ab. Als sie später erfahren, dass er noch lebt, bieten ihm Freunde in Dänemark eine dreijährige Pension an, um ihm finanzielle Sorgen zu nehmen und damit er sich auf Studium und Dichtung konzentrieren kann. Dies ist, wie Thelemiten und Studenten von Charles Sanders Peirce wissen, der Einfluss von Agape. Agapismus nennt Peirce das kosmische Prinzip der positiven Beeinflussung der Evolution. Falls sich jemand fragt, was dieser Artikel mit Magie zu tun hat: den Strom Agape zu kennen und zu nutzen.
Die Hilfe seiner Freunde und die Reaktion Schillers sind eins der dramatischsten Beispiele für die Veränderung von Wahrscheinlichkeiten. Es ist eine so praktische Angelegenheit! Und viele glauben anscheinend, schwarze Kleidung und silberne Accessoires seien dafür nötig. Dabei zeigt schon das Wort den Irrtum: das Adjektiv accessoire bedeutet „zusätzlich; nebensächlich“. - Wo war ich stehen geblieben?
Ah ja. Die Freunde in Dänemark sind überglücklich, dass er lebt und bieten Schiller eine dreijährige Pension an. Was tut Schiller auf die Freundschaftsbekundung hin? Er verfasst die Lektionen in Briefen "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" als Antwort und Dank an einen seiner Förderer, Friedrich Christian von Augustenburg. Diese Briefe sind heute (natürlich) von ungebrochener Aktualität und unerreicht in ihrer Form. Hm, die Form? Es sind Lektionen als denkender Tanz zur Selbstübersteigung. Man lernt und tut auch schon, worum es geht. Sie dürfen in keiner Beschäftigung mit Fragen der Kunst fehlen. Schilllers Briefe können als Katechismus der Lebenskunst gelten.

Das Ethos des Dichters: Selbstveredelung

Die Entschiedenheit Schillers zeigt sich auch in einer Auseinandersetzung mit dem Balladendichter Gottfried August Bürger. In der Fehde wirft er Bürger Charakterschwäche vor, das größte Manko das ein Dichter sich erlauben kann. Schiller kritisiert, dass Bürger "die höhere Schönheit" der Popularität geopfert habe - und das ist keine künstlerische Schwäche, sondern zeigt den Charakter, es ist sozusagen ein Verstoß gegen das Ethos des Dichters. "Alles was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese muss es also wert sein, vor Welt und Nachwelt ausgestellt zu werden. Diese seine Individualität so sehr als möglich zu veredeln, zur reinsten herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern, ist sein erstes und wichtigstes Geschäft [Selbstübersteigung; Anm. K.G.], ehe er es unternehmen darf, die Vortrefflichen zu rühren".
Die Menschheit zu verbessern, fängt bei einem selber an; treffender geht's nicht.
Schillerdenkmal in Leipzig

Limitationen! - mit Pausen. Kunst! - mit Limitationen.

Wie es in den Folgejahren um ihn bestellt war, zeigt ein Brief an seinen Freund Körner. "Das alte Übel regt sich bei diesem unbeständigen Wetter so oft, und hält gewöhnlich so hartnäckig an, dass ich immer von 3 Tagen 2 verliere und in den guten Intervallen eilen muss, um nur das Notwendige an meinen Geschäften zu fertigen".
Mir geht es nicht darum, dass nur jemand, der gelebt und gelitten hat wie Schiller, Kunst machen kann. Schiller zeigt mir, dass es selbst dann noch geht. Und wenn es ihm gelang - wie viel mehr kann jedem etwas Großes gelingen, der in günstigeren Konstellationen lebt?
Ich wünsche dir, liebe Leserin / lieber Leser, ein schönes Liber Legis Fest!
Bildnachweise: 1: Detail des Schillerdenkmals in Stuttgart. ©MSeses; 2: Schillerdenkmal in Leipzig.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen