Dienstag, 8. Mai 2018

Enttäuscht, aber entschlossen


NSU-Prozess: »Wir geben niemandem das Recht, uns zum Opfer zu machen«: Angehörige erwarteten Aufklärung – von Angeklagten und Behörden

Von Christiane Mudra
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Kruzifix im Saal A 101 des Oberlandesgerichts München im Mai 2013, aufgenommen zu Beginn der Hauptverhandlung im NSU-Prozess
Christiane Mudra ist Autorin, Theaterregisseurin, gelernte Schauspielerin und freie Journalistin. In ihren Stücken verarbeitet sie Themen wie Krieg und Medien, Überwachung, Rechtsterrorismus und Geheimdienstskandale.
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Am 6. Mai jährte sich der Beginn des NSU-Prozesses zum fünften Mal. Mit mehr als 420 Verhandlungstagen zählt das Verfahren zu den längsten, aber auch zu den gesellschaftlich wichtigsten der bundesdeutschen Geschichte. Trotz immer neuer Befangenheitsanträge der Verteidigung geht der Prozess dem Ende zu. Und doch, das ist bereits absehbar, bleiben allzuviele Fragen offen, die die Familien der Mordopfer umtreiben. Die Frage, warum ausgerechnet ihr Vater, Ehemann oder Bruder ermordet wurde. Die Frage, wer außer den Angeklagten zu den Unterstützern oder gar Mittätern des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) zählte. Die Frage nach der Rolle der Verfassungsschutzbehörden. Und die Frage, warum ihre Familie unmittelbar nach dem Mord durch spekulative Verdächtigungen und frei erfundene Vorwürfe jahrelang diskreditiert wurde. Einen rassistischen Hintergrund hatten die Hinterbliebenen von Anfang an vermutet, doch weder die Medien noch die Ermittler hatten diesen Verdacht ernstgenommen. Statt dessen hatte die Polizei Telefone der Angehörigen abgehört – und im Fall des 2000 in Nürnberg erschossenen Blumenhändlers Enver Simsek sogar das Auto der Familie verwanzt. Die Angehörigen wurden nach Drogen- und Rotlichtkontakten, nach Mafiaverbindungen und Beziehungen zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) befragt, Witwen mit erfundenen Geliebten und Zweitfamilien des Getöteten konfrontiert, um sie zu Aussagen zu bewegen. Zeitweise wandten sich die Beamten allen Ernstes an Wahrsager, während zahlreiche Medienvertreter über die »Dönermorde« schrieben und bis zuletzt über Täter aus den »anatolischen Bergen« spekulierten.
Im Rahmen der Nebenklageplädoyers haben viele Hinterbliebene, obwohl es ihnen nicht leichtfiel, selbst das Wort ergriffen und ihr Resümee aus den vergangenen Jahren gezogen.

Ein Angebot steht

»Ich weiß immer noch nicht, warum ausgerechnet mein Vater ausgewählt wurde«, sagte Gamze Kubasik, deren Vater 2006 in Dortmund ermordet wurde, in ihrem Plädoyer. »Ich weiß immer noch nicht, wer noch beteiligt war. Ich verstehe nicht, warum diese Menschen nicht gestoppt wurden.«
Wie wichtig Klarheit für die Hinterbliebenen wäre, die bis zuletzt auf umfassende Aussagen aller Angeklagten gehofft hatten, offenbarte Gamze Kubasiks Angebot, das ihr Anwalt Sebastian Scharmer in seinem Plädoyer der Hauptangeklagten Beate Zschäpe übermittelte: »Frau Kubasik würde sich selbst dafür einsetzen, dass die Mittäterin des Mordes an ihrem Vater insgesamt vielleicht weniger von ihrer lebenslangen Freiheitsstrafe verbüßen muss, wenn sie alle weiteren beteiligten Unterstützer, Beihelfer oder gar Mittäter offenbart, wenn sie Ross und Reiter nennt, wenn sie sich ernsthaft von den Taten distanziert und dies durch ihre rückhaltlose Mitarbeit zur Aufklärung demonstriert.«
An die Bundesanwaltschaft gerichtet fügte Gamze Kubasik hinzu: »Ich glaube nicht, dass Sie noch jemanden anklagen. Für Sie ist die Sache doch hier abgeschlossen.«
»Ich hatte gehofft, die Wahrheit zu erfahren. Dass alle Angeklagten aussagen und Reue zeigen. Vergebung ist für mich ein großes Thema. Ich will abschließen.« erklärte die 28jährige Michalina Boulgarides, deren Vater Theo Boulgarides 2005 in München sterben musste, im Gespräch mit dieser Zeitung. »Carsten S. habe ich vergeben, den anderen nicht. Aber ich habe mein Leben gemeistert und weiß, dass ich schon jetzt um Klassen mehr erreicht habe als jeder von denen, die da auf der Anklagebank sitzen.« Mit Carsten S., dem jüngsten der fünf Angeklagten, der zu Beginn der Verhandlung als einziger umfassend ausgesagt hatte, hat sie sich gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Schwester im Beisein der Anwälte getroffen.
»Dieses Zusammenkommen war einer der schwierigsten, aber auch einer der emotionalsten Momente in unserem Leben«, beschrieb die Witwe Yvonne Boulgarides das Treffen in ihrem Plädoyer. »Herrn S. haben wir in diesem Gespräch als einen Menschen erlebt, der über ein Unrechtsbewusstsein verfügt und der zur Reue fähig ist. Eigenschaften, die wir bei den anderen Angeklagten in all der Zeit bei besten Willen nicht ausmachen konnten.«
Abdulkerim Simsek, der Sohn des ersten NSU-Mordopfers Enver Simsek, wandte sich in seinem Schlussvortrag direkt an S.: »Herr S., ich nehme Ihre Entschuldigung an«. An den Vorsitzenden Richter Manfred Götzl gerichtet fügte er an: »Ich möchte, dass alle, die an der Ermordung meines Vaters schuld sind, in höchstem Maße bestraft werden.«

Zweierlei Schweigen

Die Beweggründe der Angeklagten bleiben den Hinterbliebenen verborgen. Strategisch nachvollziehbar sind die sogenannten Teileinlassungen von Beate Zschäpe und Ralf Wohlleben jedoch nicht, da sie im Unterschied zu einer Aussageverweigerung als belastend bewertet werden können.
Geschwiegen haben bislang – von späten, wenig glaubwürdigen, teils nur schriftlichen Einlassungen abgesehen – nicht nur Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, André Eminger und Holger Gerlach. Geschwiegen haben auch zahlreiche Vertreter der Sicherheitsbehörden. Tausende Aktenseiten wurden seit dem Bekanntwerden des NSU geschreddert, unausgewertete Beweismittel vernichtet, zahlreichen Spuren wurde nicht nachgegangen. Eine Variation des Schweigens war in der totalen Amnesie zahlreicher Zeugen zu beobachten.
Andreas Temme etwa, der Verfassungsschutzmitarbeiter, der 2006 in einem Kassler Internetcafé war, als dort der 21jährige Halit Yozgat erschossen wurde, gab bis zuletzt an, sich an keine entsprechende Wahrnehmung zu erinnern. Gegen Temme war zeitweise wegen Mordverdachts ermittelt worden.
»Sehr geehrte Ältere und Vorsitzende des Gerichts, Sie waren meine letzte Hoffnung, mein Vertrauen«, erklärte die Mutter des Ermordeten in ihrem Plädoyer, »Sie haben wie Bienen gearbeitet, aber keinen Honig produziert. Es gibt kein Ergebnis.«
An Beate Zschäpe richtete Ayse Yozgat die Frage: »Können Sie einschlafen, wenn Sie nachts den Kopf auf das Kissen legen? Ich kann auch nach elf Jahren nicht einschlafen. Ich wünsche keiner Mutter, so etwas zu erleiden.« Und doch ist sie sich sicher: »Es wird der Tag kommen, wo Allah alles aufklären wird.«
»Es ist ein Schatten auf Deutschland gefallen«, ließ Tülin Özüdogru, das einzige Kind des Nürnberger NSU-Opfers Abdurrahim Özüdogru, ihren Anwalt verlesen. Auch sie kritisierte, dass die Behörden, deren Aufgabe es sei, diesen Schatten wegzuwischen, zuwenig getan hätten, obwohl es um das Vertrauen der Menschen in den Staat gehe. Dennoch ist sie sich sicher: »Früher oder später fliegt alles auf.«
»Vom Prozess hatte ich mir mehr erhofft«, bemängelte auch Michalina Boulgarides. »Die Nebenklagevertreter haben Namen und Fakten genannt. Ich hätte erwartet, dass man den Beweisanträgen stattgibt. Wenigstens das ist man uns schuldig.« Das Resümee ihrer Mutter lautete: »All die zum Teil absurden Auf- und Erklärungsversuche haben uns mit noch mehr Fragen, Misstrauen und Ungewissheit zurückgelassen.«

Weiter auf Wahrheitssuche

Die Motive der quälenden Fragen und des erschütterten Vertrauens ziehen sich durch die Statements der Angehörigen und haben auch durch die Dimension des NSU-Komplexes eine gesamtgesellschaftliche Brisanz. Dass das Prozessende trotzdem nicht das Ende der Aufklärungsbemühungen bedeutet, dessen ist sich nicht nur Yvonne Boulgarides sicher, die ihr Plädoyer mit den Worten schloss: »Ich weiß, dass wir die Zeit nicht zurückdrehen können. Eines aber können wir tun: nicht aufhören zu fragen. Wir alle sollten auch nach diesem Prozess nicht aufhören, nach Antworten zu suchen.«
Und ihre Tochter Mandy Boulgarides konstatiert: »Mein Vater ist tot und kommt nicht wieder. Dafür kann der Prozess keinen Ausgleich schaffen. Aber ich will, dass meine kleine Tochter später sieht, dass ihre Familie alles versucht hat, um soviel Klarheit und Gerechtigkeit wie möglich zu schaffen. Wir geben niemandem das Recht, uns zum Opfer zu machen.«

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