Samstag, 19. August 2017

»Asozial begabt« … (Ingrid Zwerenz)


Mit diesen zwei Worten definiert sich Karl Heinz Bohrer auf Seite 138 seines soeben im Suhrkamp Verlag erschienenen Buches. An Selbsterkenntnis fehlt es dem vielgelobten und vielgescholtenen Autor also nicht. Doch ein Mann, der verbal so um sich beißt und schlägt wie er, wäre sonst noch schwerer zu ertragen. Aus seinem Herzen macht er keine Mördergrube, schreibt hin, was ihm auf den Geist geht. Marxismus findet er »abstoßend«, und er gesteht sich und den Lesern ein, »dass er keine Sympathie für die Menschen en masse hatte, sei es als Volk, sei es als Nation«. Auf Seite 241 bekennt der Verfasser eine immer stärker werdende Abneigung gegen die Vita activa, eine zum Beispiel von Hannah Arendt hochgeschätzte Lebensform. Bohrers Vereinzelungsattitüde grenzt schon ans Autistische. Dabei mangelte es dem umtriebigen FAZ-Journalisten weder bei seinen langen Aufenthalten in Paris noch in London an Bekanntschaften mit beachtlichem intellektuellen Niveau.

Während seiner Universitätsjahre in Deutschland war der junge Mann eifrig in Sachen rebus sexualibus unterwegs, ein Bettenstudent sondergleichen. Seiner späteren Gattin, die damals in einer anderen Stadt lebte, versicherte er: »Diese Nächte wären keine Affären, sondern eine Art anthropologische Studie« – im Laufe von Ehe-Jahrzehnten lernt frau eine Reihe maskuliner Seitensprung-Entschuldigungen kennen, die im Bohrer-Buch ist schon sehr apart. Nun ist das alles Privatsache, doch da der Autor dem Thema mehrere Seiten widmet, sind längere Zitate legitim.

Immer überraschend sind seine politischen Zuordnungen. Eigenwillig konstatiert er eine Parallele zwischen dem Kniefall Willy Brandts in Warschau und der berühmten Richard-von-Weizsäcker-Rede 1985 zum 40. Jahrestag des 8. Mai, nennt beide Ereignisse »Ikonen« der BRD, sie bedeuten ihm aber offensichtlich kaum etwas.

Nun aber mal sachte: Willy Brandt, so früh wie möglich aus dem faschistischen Deutschland emigriert, hatte nicht den geringsten Anlass, für die Verbrechen der Nationalsozialisten irgendwo um Verzeihung zu bitten, beim bis zur letzten Stunde treudienenden Offizier in Hitlers Wehrmacht sah das schon anders aus. Für die Distanzierung von seiner steilen Militärkarriere war es hohe Zeit – Richard von Weizsäcker lieferte sie zwar spät, doch konsequent. Die Aussage, dass der 8. Mai auch für Deutsche ein Tag der Befreiung sei, trug ihm heftige Angriffe von CDU und CSU ein. Franz Josef Strauß schäumte mal wieder über vor Empörung, ein durch Jahrzehnte enger Freund von uns – Ralph Giordano – schäumte über vor Freude und versprach dem Bundespräsidenten wegen dessen Rede einen »Platz in seinem jüdischen Herzen«.

Indessen besteht Bohrers Buch ja nicht nur aus Desinteresse an Themen, mit denen sich deutsche Männer, Frauen und Jugendliche beschäftigen. Sein Lektüre-Geschmack ist meistens exquisit, immer wieder kommt er auf Walter Benjamin zurück, zitiert kürzere und längere Texte – gut zu lesen. Allerdings vermisse ich einen Hinweis auf diese wichtige Aktion des jüdischen Denkers: Zusammen mit Bertolt Brecht und Ernst Bloch sowie Günther Anders wollte auch Benjamin gleichsam als Gegengewicht zu Heideggers »Sein und Zeit«, erschienen 1927, eine Zeitschrift gegen Heidegger gründen. Als Prinzip sollte »eingreifendes Denken« dienen. Kein Wunder, dass derartige Aktivitäten Bohrer völlig kalt lassen, der ja bereits die Vita activa nicht ausstehen kann. Heidegger widmet er sich unverdrossen, ungeachtet dessen von Grund auf verlumpter Judenfeindschaft, die ja seit der »Schwarzen Hefte«-Edition, publiziert 2014, noch deutlicher als früher nachzulesen ist. Immerhin ist MH nicht sein favorisierter Philosoph, das ist über lange Strecken des Buches Jürgen Habermas. Ihn hebt er in den höchsten Himmel – bis 1989 –, da schreibt Bohrer einiges über Nazis, die ihre Weltsicht auch nach dem Scheitern des Faschismus zu verteidigen suchten, und fügt hinzu: »Die jetzt idealistisch vom zu rettenden DDR-Marxismus Redenden in Universität und Journalismus wirkten auf mich wie eine Kopie davon.«

Punktum: Drittes Reich und Deutsche Demokratische Republik samt ihren Weltanschauungen seien identisch – so etwas muss man sich auf der Zunge zergehen lassen und dann ausspucken, wie Gerhard Zwerenz öfter mal formulierte.

Gegen die Gleichsetzung protestierte Habermas mit Verve! Überdies lehnte er die sogenannte Vereinigung von BRD und DDR rigoros ab, vor allem merkte er an: »Linke Traditionen würden verloren gehen, die es in Westdeutschland ohnehin nicht mehr gebe, nie gegeben habe.«


Karl Heinz Bohrer: »Jetzt«, Suhrkamp, 441 Seiten, 26 €

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