Samstag, 8. Juli 2017

Venezuela am Rande des Bürgerkriegs zwischen zwei Fraktionen der Bourgeoisie


Artikel aus der No.49 der ecuadorianischen Zeitschrift „Conciencia Revolucionaria“ ( Mai 2017). Diese Zeitschrift wird von der Bewegung „Vientos des Pueblo“ herausgegeben, einer Bewegung, die mehrere Organisationen unter Führung des „Bloque Proletario“ umfasst. Der Text wurde von der französischen OCML-VP ins Französische übersetzt und, davon ausgehend, von uns ins Deutsche (Fußnoten von uns).
Venezuela steht am Rand des Zusammenbruchs. Die Konfrontation zwischen Chavisten und der Opposition wird auf der Straße ausgetragen, es gibt ständig Zusammenstöße. Nach den von den Medien verbreiteten Informationen gab es letzte Woche 20 Tote und Hunderte Festgenommene. Die verschiedenen ausländischen Regierungen haben sich für oder gegen das Regime Maduro ausgesprochen. Glaubt man der internationalen öffentlichen Meinung, geht es angeblich um einen Kampf zwischen Sozialismus und Kapitalismus, zwischen Diktatur und Demokratie. Aber das hat mit der Realität nichts zu tun, denn was sich abspielt ist im Grunde eine Auseinandersetzung zwischen zwei bourgeoisen Fraktionen der herrschenden Klasse, die hunderttausende Venezolaner unterdrückt. Viele mussten wegen der prekären wirtschaftlichen Lebensbedingungen das Land verlassen und in andere Länder flüchten.
Wir erinnern daran, dass Hugo Chavez 1992 den Versuch eines Staatsstreichs gegen die Regierung Carlos Andres Perez unternahm, weshalb er zwei Jahre ins Gefängnis kam. Anschließend gründete er die „Bewegung Fünfte Republik“, mit der er bei den Wahlen 1998 triumphierte. 1999 übernahm er die Präsidentschaft eines Venezuela, das aufgrund der neoliberalen Maßnahmen seiner Vorgänger in die Krise geraten war. Er triumphierte mit seinem Diskurs, der sich auf Simon Bolivar berief, und versprach, Venezuela aus der Rückständigkeit herauszuführen. Er errichtete ein Regime, das sich selbst als sozialistisch erklärte, führte eine neue Verfassung ein und regierte gestützt auf die hohen Gewinne der Erdölindustrie, verbunden mit einer Reihe von Maßnahmen im Bereich der Sozialhilfe, darunter speziell die Bolivarischen Missionen. Chavez regierte bis 2013, als er in Folge einer Krebserkrankung starb.
Der von Chavez propagierte „neue Sozialismus“ beruht in theoretischer Hinsicht auf dem „Sozialismus des XXI. Jahrhunderts“ von Heinz Dietrich 1. Dabei handelt es sich um nichts als eine Usurpation des Begriffs „Sozialismus“; der wirkliche Sozialismus wurde aller seiner grundlegenden Prinzipien beraubt, um ihn zu einer fügsamen und mit dem kapitalistischen System vereinbaren Theorie zu machen, einer Theorie, die den Klassenkampf, die Rolle des Staates als Instrument der Klassenherrschaft, die ganze kapitalistische und imperialistische Logik leugnet, welche die neokolonialen Länder unterdrückt und die Werktätigen in Stadt und Land ausbeutet.
In der Praxis war der „Sozialismus des XXI. Jahrhunderts“ eine Strategie der herrschenden Klasse, um die in die Krise gestürzten Staaten Lateinamerikas zu retten. Es war notwendig, sie zu „erneuern“ und ihnen frisches Blut zuzuführen, um der Kapitalakkumulation der imperialistischen Mächte und der lokalen Eliten zu dienen. Das führte wiederum zum Aufstieg einer neuen Fraktion der herrschenden Klasse: der bürokratischen Bourgeoisie, die sich in erster Linie in Form eines korrupten Staatskapitalismus bereichert.
Unter dem chavistischen Regime wurde mit einigen Sozialhilfe-Maßnahmen zeitweiligen Charakters begonnen, die allerdings nur Flickwerk waren und die Grundprobleme der Volksmassen nicht lösten. Die Abhängigkeit vom Erdöl vertiefte sich, sodass die Wirtschaft des Landes weiterhin in erster Linie im Rohstoffexport besteht. Sie war dadurch sehr fragil und den Schwankungen der internationalen Märkte ausgesetzt 2. Im Laufe der Jahre spitzte sich die Krise immer mehr zu, es kam zur Verknappungen auf dem Warenmarkt, die Inflation stieg auf ein exorbitantes Niveau, Armut und Elend breiteten sich im ganzen Land aus.
Nach dem Tod von Chavez übernahm Maduro Partei und Regierung. Er konnte diese Entwicklung nicht umkehren und die Krise vertiefte sich auf ein unerträgliches Ausmaß. Mit dem Verschwinden des Caudillo zerrann auch eine gewisse Unterstützung aus den Reihen der Volksmassen, auf die das Regime zählte. Im Gegenteil verschärften sich innerhalb der Partei und der Regierung die Widersprüche zwischen den diversen Gruppierungen, darunter insbesondere die von Diosdado Cabello, bis Jänner 2017Präsident der Nationalversammlung, der Familie von Chavez und den Gruppierungen um Maduro.
Angesichts der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Krise hat sich ein Sektor als hauptsächliche Opposition zum Chavismus ausgebildet: die traditionelle Bourgeoisie. Diese ranzige Oligarchie, die Venezuela jahrzehntelang regierte, möchte ihre verlorenen Positionen zurückerobern und ist von der propagandistischen Opposition zum offenen Kampf gegen das derzeitige Regime übergegangen. Sie benutzt Sabotage, Spekulation und geht bis zur Konfrontation auf der Straße. In der kollektiven Einbildung gibt es die Vorstellung, es gäbe einen grundlegenden Widerspruch zwischen den zwei Gruppierungen. Das gewöhnliche Verständnis produziert so einen Antagonismus, den es nur in der Phantasie gibt. Im wirklichen Leben gibt es ihn nicht, denn beide sind geharnischte Verteidiger des kapitalistischen Systems. Ihre Differenzen liegen nur darin, dass ihre Methoden der Kapitalakkumulation unterschiedliche Wurzeln haben. Auf der einen Seite steht die traditionelle Bourgeoisie und Oligarchie samt den lokalen „Eliten“, die insbesondere mit dem US-Imperialismus verbunden ist und die sich wesentlich über Bankgeschäfte, privates Unternehmertum und Export- und Importgeschäfte bereichert; auf der anderen Seite steht eine Schicht von Neureichen, die den Staat als Hebel der Kapitalakkumulation benutzen, sich dazu der Korruption und mafioser Strukturen bedienen und speziell mit dem chinesischen Imperialismus liiert sind, bei dem Venezuela bis zum Hals verschuldet ist. Es geht um einen Konflikt innerhalb der Bourgeoisie, um sonst nichts, und das Volk soll als Kanonenfutter herhalten, indem es eine Rolle für die eine oder andere Fraktion abgibt.
Die Konfrontation hat einen Punkt erreicht, an dem es mit friedlichen Formen (sprich: Wahlen), in denen die Herrschenden sich die Kontrolle der Staatsmacht streitig machen, vorbei ist. Die Widersprüche haben einen solchen Grad erreicht, dass es zu einer gewaltsamen Lösung kommen könnte. In diesem Fall würden die Imperialisten und die Armee zum Schiedsrichter über die Kräfteverhältnisse. Wir sind über den Gleichgewichtszustand hinaus, den die bürgerliche Demokratie im Interesse der Herrschenden aufrechterhalten muss und der darin besteht, dass – unter Berücksichtigung des allgemeinen Interesses der herrschenden Klasse insgesamt – die Akkumulation aller Fraktionen der Bourgeoisie ermöglicht wird. Was in Venezuela heute hervorbricht, ist nichts anderes als die direkte Manifestation des wirtschaftlichen Kampfes zwischen den beiden Fraktionen. Der Chavismus ist nicht mehr in der Lage, die Interessen der gesamten herrschenden Klasse sicherzustellen, seine lumpenbourgeoisen Züge haben „den Pakt gebrochen“ und jetzt haben die Chavisten nur mehr im Sinn, soviel wie möglich zusammenzustehlen, bevor sie gestürzt werden. Dahinter steckt darüber hinaus der Kampf zwischen dem chinesischen und dem amerikanischen Imperialismus in der Region, eine noch embryonale Konfrontation, aber eine, die sich sicher an den kommenden Jahren verschärfen wird.
In Venezuela gibt es keine Konfrontation zwischen Sozialismus und Kapitalismus, sondern eine zwischen Bourgeoisfraktionen, die beide das kapitalistische System verteidigen und beide mit imperialistischen Mächten liiert sind, mit China und den USA. Beide versuchen, das Volk als Kanonenfutter zu benutzen, um zu einer Entscheidung zu kommen. Wie immer diese Konfrontation ausgeht, es ändert nichts am Klassencharakter des venezolanischen Staates und es wird auch die Gesellschaft nicht grundlegend ändern. Es ist bedauerlich, dass keine unabhängigen revolutionären Kräfte wahrnehmbar sind, die in diese Situation zugunsten des Volkes eingreifen könnten – offenbar ist es dem Chavismus gelungen, die Volksopposition einzukassieren und zum Schweigen zu bringen.
Die Regierung Maduro ist dabei, zu fallen wie eine reife Frucht vom Baum. Währenddessen plündern seine Komplizen, was sie nur können, dank ihrer privilegierten Positionen im Staatsapparat. Wenn die Macht der traditionellen Bourgeoisie zunimmt, wird sie unverzüglich ihr wahres Gesicht zeigen. Es bleibt den Venezolanern nur die Option, eine wirklich revolutionäre Strömung in ihrem Land aufzubauen. Das ist der einzige Weg, aus der Lage herauszukommen, in die die neuen und alten Bourgeois sie gebracht haben.
1 Dietrich ist ursprünglich Deutscher, seit 1977 Professor in Mexiko. Seine Bücher, vor allem der „Sozialismus des XXI. Jahrhunderts“ (1996) wurden in Kuba massiv propagiert. Er beeindruckte auch Chavez, mit dem er zeitweise „beratende Beziehungen“ unterhielt.
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Das Erdöl macht über 80% des Exports und ein Viertel des BIP aus und von ihm stammen in den letzten Jahren 90% der Staatseinnahmen. Mehr als ein Drittel des Exports geht in die USA, woher auch fast 30% des Imports kommen. In der Ära Chavez stiegen sowohl die Abhängigkeit vom Erdöl als auch die von den USA. Zweitwichtigster Wirtschaftspartner ist China mit etwa 15% der Exporte wie der Importe.

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